FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Tom der Reimer

Unter alle den jungen Kämpen in Schottland war im 13. Jahrhundert keiner liebenswürdiger und gewinnender als Thomas Learmont, Herr des Schlosses von Ercildoune in Berwickshire. An einem sonnigen Maitage geschah es nun, dass Thomas die Feste Ercildoune verließ und in die Wälder wanderte, die sich am Huntly Burn entlangziehen, einem kleinen Wasser, das von den Eildon-Bergen herunterrauschte.

Es war ein lieblicher Morgen, frisch und strahlend und warm, und alles war so schön wie im Paradies. Thomas fühlte sich so glücklich inmitten der Heiterkeit, dass er sich an einer Baumwurzel auf den Boden streckte um alles Leben in seiner Nähe zu beobachten. Als er nun so lag, hörte er das Hufgetrappel eines Pferdes, das sich einen Weg durch die Büsche bahnte. Und da er hinschaute, sah er, wie die schönste Dame, die er je erblickte, auf einem grauen Zelter zu ihm herangeritten kam.

Sie trug ein Jagdgewand aus schimmernder Seide, grün wie das Frühlingsgras, und von ihren Schultern hing ein Mantel aus Samt, der aufs beste zu dem Samtrock paßte. Ihr gelbes Haar wie rieselnd Gold hing ihr lose um die Schultern, und auf ihrem Haupte funkelte ein Schmuck von kostbaren Steinen, die wie Feuer im Sonnenlicht blitzten. Ihr Sattel war aus reinem Elfenbein und ihre Decke aus blutrotem Atlas, die Gurte aus gerippter Seide und die Steigbügel aus geschliffenem Kristall. Die Zügel ihres Pferdes waren aus gehämmertem Golde, und kleine Silberglocken ließen beim Reiten die zarteste Feenmusik erklingen. Gewiß war sie auf der Jagd: Denn sie hielt ein Horn und ein Bündel Pfeile, und sie führte sieben Windhunde daher in der Koppel, während ebensoviel Spürhunde frei neben ihrem Pferde liefen. Als sie die Schlucht herunterritt, trällerte sie ein Stück aus dem alten schottischen Liede vor sich hin.

Sie trug sich mit einer so königlichen Anmut, und ihr Kleid war so herrlich, dass Thomas am Wegrand knien und sie verehren mochte, da er meinte, es wäre die Heilige Jungfrau selbst. Aber als die Reiterin auf ihn zukam und seine Absicht merkte, schüttelte sie traurig den Kopf: „Ich bin nicht die heilige Frau, wie du glaubst. Sie nennen mich Königin des Feenreiches und nicht die Himmelskönigin.“

Und sie schien recht zu haben; denn von dem Augenblick an war ein Zauber über Tom gekommen, der ihn alle Klugheit, Vorsicht und Vernunft vergessen ließ. Er wusste wohl, wie gefährlich es für die Sterblichen ist, sich mit der Fee einzulassen; aber er war so gebannt von der Schönheit der Dame, dass er sie um einen Kuß bat. Das gerade hatte sie sich gewünscht; sie wusste, küsste er sie erst einmal, so hatte sie ihn ganz in der Gewalt.

Zu des Jünglings Entsetzen kam eine schlimme Veränderung über sie, als er ihre Lippen berührte. Ihr kostbarer Mantel und seiden Reitgewand fingen an dahinzuwelken und ließen ihr nur eine lange graue Hülle, fahl wie die Asche. Ihre Schönheit schien ebenso zu vergehen, und sie wurde alt und bleich, und noch schlimmer, gar viel von ihrem reichen goldenen Haar wurde vor seinen Augen grau und stumpf. Sie bemerkte sein Erstaunen und seinen Schrecken und brach in Hohngelächter aus: „Nicht mehr bin ich so schön anzuschaun wie zuerst; aber das macht wenig aus. Du hast dich verkauft, Tom, mir sieben Jahre zu dienen. Denn wer die Feenkönigin küsst, muß ihr folgen ins Feenland und ihr dort dienen, bis die Zeit vorüber ist!

Als der arme Thomas diese Worte hörte, fiel er auf die Knie und bat um Gnade. Aber sie wurde ihm nicht gewährt. Die Elfenkönigin lachte ihm nur ins Gesicht und lenkte ihren grauscheckigen Zelter dicht an ihn heran. „Nein, nein“, hielt sie seinen Bitten entgegen, „du hast den Kuß begehrt, und nun musst du auch den Preis bezahlen. So zögere nicht länger, steige hinter mir auf; denn es ist hohe Zeit für mich zu gehen.“

So stieg Thomas mit manchem Seufzer und Schauer hinter ihr zu Pferde, und kaum saß er, so zog sie den Zügel an, und das graue Roß jagte davon. Immer weiter und weiter ging es, schneller als der Wind, sie hatten das Land der Lebenden hinter sich gelassen und kamen an den Rand einer großen Einöde, die sich vor ihnen dürr und kahl und verlassen bis zum Saum des Himmels ausdehnte. Wenigstens schien es so den müden Augen des Thomas von Ercildoune, und er sann, ob er und seine seltsame Gefährtin wohl auch durch diese Wüste müssten und ob es da ein Zurück ins Land des Lebens gäbe.

Aber die Feenkönigin straffte plötzlich die Zügel, und der graue Zelter hielt ein in seinem wilden Gang. „Nun musst du absteigen, Thomas“, sagte die Dame und schaute über die Schulter nach ihrem unglücklichen Gefangenen, „dich niederbeugen und dein Haupt auf mein Knie legen, so will ich dir verborgene Dinge zeigen, die sterbliche Blicke nicht gewahren.“ Tom stieg herunter, beugte sich nieder und lehnte sein Haupt auf das Knie der Feenkönigin, und siehe, da er wieder über die Wüste blickte, schien alles verändert. Denn er sah jetzt drei Straßen quer hindurchführen, die er vorher nicht bemerkt, und jede dieser Straßen war verschieden.

Eine von ihnen war breit, eben und gleichmäßig und verlief geradeaus durch den Sand, so dass man auf seiner Reise nicht den Weg verlieren konnte. Die zweite Straße war von der ersten so verschieden, wie sie nur sein konnte. Sie war schmal, gewunden und lang und da war ein Dornstrauch auf der einen und eine Rosenhecke auf der andern Seite, und diese Hecken waren so hoch gewachsen und ihre Zweige so wild und verflochten, dass der Reisende seine größte Mühe gehabt hätte, überhaupt seinen Weg fortzusetzen. Und die dritte Straße war wiederum keiner der beiden anderen verwandt. Es war eine wunderschöne Straße, und sie schlängelte sich aufwärts zwischen Farnen und Heidekraut und goldgelben Ginsterbüschen und sah so aus, als möchte es ein herrlich Reisen sein auf diesem Weg.

„Nun“, sagte die Feenkönigin, „wenn du willst, so werde ich dir sagen, wohin diese drei Straßen gehen. Die erste Straße ist, wie du siehst, breit und eben und mühelos, und gar viele werden sie wählen. Aber es mag auch eine gute Straße sein, sie führt doch zu einem bösen Ende, und wer sie wählt, bereut seine Wahl für immer. Und die enge Straße, die so verstrickt und verwachsen ist durch Dornen und Rosen, wird nur von wenigen gewählt und betreten werden. Wüßten sie es genau, sie würden wohl in größerer Zahl auf ihr wandeln; denn es ist die Straße der Rechtschaffenheit. Ist sie auch beschwerlich und lästig, endet sie doch in einer ruhmreichen Stadt, die da heißt die Stadt des Großen Königs.

Und dann die dritte Straße, die wunderschöne Straße, die hügelaufwärts zwischen den Farnkräutern läuft und dahin führt, wo kein Sterblicher je war, wohl weiß ich, wohin sie geht, Thomas; denn sie führt ins holde Elfenland – das ist die Straße, die wir wählen. Und merk dir, Thomas, wenn du deine Feste Ercildoune jemals wiedersehen willst, dann hüte deine Zunge, bis wir das Ende unserer Reise erreicht haben, und sprich kein einzig Wort zu irgendeinem außer mir, denn der Sterbliche, der unbesonnen im Land der Feen seine Lippen öffnet, muß dort für immer bleiben.“ Dann hieß sie ihn wieder ihren Zelter besteigen, und weiter ritten sie.

Der Weg zwischen den Farnen war allerdings nicht so einladend wie im Anfang. Denn sie waren noch nicht sehr weit geritten, als er sie in einen schmalen Hohlweg führte, der gerade unter die Erde zu gehen schien, wo ihnen kein Lichtstrahl den Pfad wies und die Luft feucht und schwer war. Überall hörte man Wasser rauschen, und schließlich geriet die graue Mähre auch mitten hinein. Und das Wasser kroch empor, kalt und frostig, zuerst an Thomas Füßen und dann über seine Knie. Sein Mut war allmählich immer mehr gesunken, seitdem sie das Tageslicht verlassen; aber jetzt gab er sich ganz verloren. Denn es schien ihm gewiß, dass seine seltsame Gefährtin mit ihm niemals wohlbehalten an das Ziel gelangen würde.

Er fiel nach vorn in tiefer Ohnmacht. Und hätte er nicht das graue Gewand der Fee fest angepackt, so wäre er sicher von seinem Sitz gerutscht und ertrunken. Aber alles, sei es gut oder böse, hat seine Zeit, und schließlich begann sich die Dunkelheit zu lichten, und die Helligkeit wurde stärker, bis sie wieder im vollen Sonnenscheine standen. Da faßte Thomas Mut und schaute auf. Und siehe, sie ritten durch einen üppigen Garten, wo Äpfel und Birnen, Datteln und Feigen und Weinbeeren in großer Fülle wuchsen. Seine Zunge war so ausgedörrt und trocken, und er fühlte sich so schwach, dass er nach einer der Früchte begehrte, um sich zu erholen.

Er reckte seine Hand, um sich eine zu pflücken, aber seine Gefährtin im Sattel wandte sich um und verbot es ihm: „ Nur einen Apfel darfst du essen, den ich dir gleich geben werde. Wenn du etwas anderes berührst, musst du für immer im Feenland bleiben.“ Der arme Thomas bezwang sich, so gut er konnte, und sie ritten langsam weiter, bis sie an ein niedriges Bäumchen kamen, das war über und über mit roten Äpfeln bedeckt. Die Feenkönigin beugte sich herab, pflückte einen und reichte ihn ihrem Gespielen.

„Diesen kann ich dir geben“, sagte sie, „und ich tue es gern; denn es sind die Äpfel der Wahrheit, und wer von ihnen isset, dessen Lippen werden nie mehr eine Lüge tun.“ Thomas nahm den Apfel und aß ihn, und für immer blieb die Gnade der Wahrheit auf seinen Lippen; darum nannte man ihn noch in späteren Jahren Tom den Wahren. Sie hatten nur noch ein kleines Stück Weges zurückzulegen, bis sie ein prächtiges Schloß erblickten, das auf einem Hügel ragte.

„Drüben ist mein Reich“, sagte die Königin und wies stolz hinüber. „Dort wohnt mein Herr und alle Vornehmen seines Hofes, und da mein Herr ein ungleich Gemüt besitzt und einem fremden Kämpen, den er in meiner Gesellschaft sieht, nicht sonderlich freundlich ist, bitte ich dich um deinet und meinetwillen, mit niemand ein Wort zu wechseln, der zu dir redet. Und sollte mich jemand fragen, war oder was du seist, so will ich ihm sagen, du wärest stumm. So wirst du unauffällig durch die Menge kommen! Mit diesen Worten setzt die Dame ihr Jagdhorn an und blies. Dabei ging ein merkwürdiger Wandel mit ihr vor: Ihr hässliches Aschengewand fiel von ihr, das graue Haar verschwand, und sie erschien wieder im grünen Reitrock und Mantel, und ihr Gesicht war jung und schön. Aber auch Thomas hatte sich wunderbar verändert: Da er zufällig heruntersah, merkte er, seine groben Kleider vom Lande hatten sich verzaubert in ein Gewand von schönem braunen Tuch, und an seinen Füßen trug er Atlasschuhe.

Sobald der Hornruf verklungen war, flogen die Tore des Palastes auf, und der König eilte der Königin entgegen in Begleitung einer großen Schar von Rittern und Damen, Sängern und Pagen; Thomas, der vom Zelter abgestiegen war, hatte keine Mühe, ihren Wünschen zu folgen und unbemerkt ins Schloß zu kommen. Jedermann schien froh, die Königin zurückzusehen, und sie versammelten sich in ihrem Gefolge im Großen Saal, und sie sprach freundlich mit ihnen allen und reichte ihnen ihre Hand zum Kuß. Dann wandte sie sich mit ihrem Gatten zu einem Hochsitz am Ende des ausgedehnten Raumes, wo zwei Thronsessel standen; darauf ließ sich das königliche Paar nieder und schaute den beginnenden Festlichkeiten zu.

Der arme Thomas stand indessen weit ab am anderen Ende des Saales, er fühlte sich sehr einsam und doch ergriffen von dem ungewöhnlichen Schauspiel, dessen Zeuge er jetzt wurde. Denn obwohl all die schönen Damen, Hofleute und Ritter in einem Teile des Schlosses tanzten, sah man in einem anderen Jäger kommen und gehen, die brachten große Hirschgeweihe, die sie auf der Jagd geschossen, und warfen sie übereinander auf den Boden. Zu Seiten der toten Tiere standen aber ganze Reihen von Köchen, schnitten sie zurecht und trugen die Stücke zum Braten fort. Das alles war ein seltsames phantastisches Bild, dass Thomas nicht darauf achtete, wie die Zeit verstrich, sondern nur stand und zusah und gaffte, ohne mit jemand ein Wort zu wechseln.

Das ging drei lange Tage so weiter, da erhob sich die Königin von ihrem Thron, schritt vom Hochsitz herunter und ging durch den Saal auf ihn zu. „Nun ist es Zeit zu satteln und zu reiten, Tom“, sagte sie, “wenn du jemals das schöne Schloß Ercildoune wiedersehen möchtest.“ Thomas blickte sie verwundert an: „Ihr spracht von sieben langen Jahren, hohe Frau, und ich bin doch erst drei Tage hier.“ Die Königin lächelte: „Schnell vergeht die Rast im Feenland, mein Freund. Du meinst nur drei Tage hier gewesen zu sein. Sieben Jahre ist es her, seit wir uns trafen. Und so ist es Zeit für dich zu gehen. Gern hätte ich dich noch länger bei mir gehabt, aber ich wage es nicht um deiner selbst willen. Denn in jedem siebten Jahr kommt ein böser Geist aus den Gebieten der Nacht herab zu uns und nimmt einen unserer Gefährten mit fort, wen er gerade fasst. Und da du ein stattlicher Bursche bist, könnte er am Ende gar auf dich verfallen. Es täte mir leid, wenn dir etwas zustieße, und so will ich dich schon heute nacht in dein Land zurückbringen.“

Wieder wurde der graue Zelter herbeigeführt, Thomas und die Königin stiegen auf, und wie sie gekommen waren, kehrten sie zurück zum Eildon-Baum am Huntleybach. Dann sagte die Königin Thomas Lebewohl, und als Abschiedsgabe erbat er sich etwas, an dem die Leute erkennen sollten, dass er wirklich im Feenland gewesen. „Ich habe dir schon die Gabe der Wahrheit gereicht“, erwiderte sie. „Ich will dir nun die Gaben der Verkündigungen und Dichtkunst verleihen, so dass du die Zukunft vorauszusehen und wohlklingende Verse zu schreiben vermagst. Und außer diesen unsichtbaren Gaben gehöre dir diese, den Augen der Sterblichen sichtbar. Eine Harfe, die im Feenland geschaffen. Zieh hin, mein Freund. Eines Tages werde ich vielleicht dich wiedersehen.“ Mit diesen Worten verschwand die Dame, und Thomas blieb allein; er fühlte sich, offen gesagt, ein wenig unglücklich, da er von dem strahlenden Wesen Abschied nahm und in die gewöhnlichen Gründe der Menschen sich wandte.

Danach lebte er manch langes Jahr in seinem Schlosse Ercildoune, und der Ruhm seiner Dichtung und seiner Verkündigung verbreitete sich über das ganze Land, so dass ihn die Leute Thomas den Wahren und Tom der Reimer nannten. Vierzehn Jahre gingen vorüber, und die Leute hatten schon fast vergessen, dass Thomas der Reimer je im Elfenland gewesen. Da nahte aber eine Zeit, in der Schottland und England im Kriege lagen und das schottische Heer an den Ufern des Tweed sich lagerte, nicht weit von der Festung Ercildoune. Und der Herr des Schlosses entschied sich, ein Fest zu veranstalten und alle Edlen und Herren, die das Heer führten, zu einem großen Essen einzuladen. Noch lange blieb dieses Fest in Erinnerung. Denn der Lord von Ercildoune achtete darauf, dass alles so großartig war, stand von seinem Sitze auf, nahm seine Elfenharfe und sang den versammelten Gästen ein Lied nach dem andern aus längst vergangenen Tagen. Die Gäste lauschten atemlos; denn sie ahnten, dass sie so wunderbare Musik nie wieder hören würden. Und so geschah es auch.

In der selben Nacht, als alle Edlen zu ihren Zelten zurückgekehrt waren, sah ein Soldat auf Wache im Mondlicht einen schneeweißen Hirsch und eine Hindin die Straße herabziehen, die über das Lager hinausging. So seltsam schienen die Tiere, dass er seinen Offizier herbeirief, um zuzuschauen. Und der Offizier holte seine Kameraden, und bald folgte eine ganze Schar vorsichtig den stummen Wesen, die feierlich weiterzogen, als ob sie im Maße einer irdischen Ohren nicht vernehmbaren Musik einherschritten. „Das hat Unheimliches zu bedeuten“, sagte schließlich einer der Soldaten, „wir wollen doch nach Thomas von Ercildoune schicken; vielleicht kann er uns sagen, was es auf sich hat.“ „Ja, holen wir Thomas von Ercildoune“, stimmte jeder mit ein.

So wurde eilig ein kleiner Page in die Feste gesandt, um Thomas aus seinem Schlummer zu scheuchen. Als er des Knaben Botschaft hörte, wurde des Sehers Antlitz ernst und sinnend. „Das ist ein Zeichen“, sagte er leise, „ein Zeichen von der Feenkönigin. Lange habe ich darauf gewartet, nun ist es doch eingetroffen.“ Als er hinausging, gesellte er sich nicht zu der kleinen Schar der Wartenden, sondern folgte stracks dem schneeweißen Hirsch und der Hindin. Sobald er sie erreicht hatte, hielten sie einen Augenblick ein, als ob sie ihn grüßten.

Dann stiegen alle drei langsam ein steiles Ufer hinab, dass sich am kleinen Flusse Leader hinzog, und verschwanden in seinen schäumenden Fluten; denn der Strom führte Hochwasser. Obwohl man überall sorgsam nachforschte, fand man doch keine Spur mehr von Thomas von Ercildoune. Und bis zum heutigen Tag glauben die Leute auf dem Lande, dass der Hirsch und die Hindin Boten der Elfenbeinkönigin gewesen und er mit ihnen ins Feenland zurückgekehrt.

Märchen aus Schottland

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Der goldne Ball

Vor vielen hundert Jahren lebte ein Priester, Namens Elidurus, welchem folgende Geschichte begegnet ist. Als er noch ein Knabe und ungefähr 12 Jahre alt war, da ward es ihm einst zu lästig von seinen Lehrern immer zum Lernen angehalten zu werden. Denn wenn auch der weise Salomon sagt, daß die Frucht des Studierens süß sei, so fühlte Elidurus doch jetzt nur die Bitterkeit seiner Wurzel –, und kurz – eines Tages lief er, um der Zucht und den Schlägen seines Lehrers zu entgehen, fort und versteckte sich unter dem hohlen Ufer eines Flußes. Nachdem er daselbst zwei Tage gehungert hatte, erschienen ihm zwei Männer, klein wie die Zwerge, und sagten ihm: »wenn Du mit uns gehen willst, so wollen wir Dich in ein Land voll Lust und Freude bringen!« Er willigte gleich ein, stand auf und folgte seinen Führern auf einem Pfad, der zuerst unterirdisch und finster war, endlich aber in ein gar wunderherrliches Land mit schönen Strömen und Wiesen, Wäldern und Ebnen führte. Aber das Land war dunkel und nicht von dem vollen Licht der Sonne beschienen. Die Tage waren alle trüb, und die Nächte äußerst finster, kein Mond und kein Stern war zu sehn. Der Knabe ward vor den König geführt und ihm in Gegenwart des ganzen Hofes vorgestellt. Darauf, nachdem er längere Zeit mit ihm geredet und ihn hinreichend erforscht hatte, übergab er ihn seinem Sohne, der auch noch ein Knabe war. Diese Leute waren alle von der kleinsten Statur, aber sehr lieblich und ebenmäßig gebaut. Sie hatten schönes und glänzendes Haar, welches ihnen, wie das der Frauen, reich über die Schulter fiel. Sie aßen weder Fleisch noch Fisch, sondern lebten nur von Milchspeisen, welche in den Schüßeln mit Saffran angerichtet wurden. Sie bedienten sich niemals eines Eides; denn Nichts war ihnen so sehr verhaßt als Lügen. So oft sie aus der Oberwelt heimkehrten, tadelten sie die Eitelkeit, Untreue und Unbeständigkeit der Menschen. Sie hatten keinen Gottesdienst; das Einzige, was sie liebten und heilig hielten, war die Wahrheit.
Der Knabe kehrte oft an die Oberwelt zurück; zuweilen auf dem Weg, den er zuerst gegangen war, zuweilen auf einem andren. Das erste Mal führten ihn Einige, um ihn zurecht zu weisen; später gieng er allein. Sein Geheimnis vertraute er nur seiner Mutter an, der er auch von den Sitten, der Natur und Beschaffenheit des Volkes erzählte.
Da diese ihn nun einstens bat, ihr etwas Gold, an welchem das unterirdische Reich Ueberfluß hatte, mitzubringen, so stahl er bei einem Spiele mit dem Sohne des Königs den goldenen Ball, mit welchem derselbe sich zu zerstreuen pflegte, und brachte ihn seiner Mutter in großer Hast. Aber als er die Thüre seines väterlichen Hauses erreicht hatte und in aller Eile eintreten wollte, da stolperte er über die Schwelle und schlug seiner Länge nach in die Stube, in welcher seine Mutter saß. Zugleich nahmen die beiden Zwerge, die ihm heimlich gefolgt waren, den Ball auf, der aus seiner Hand gerollt war, und entfernten sich, indem sie den Knaben anspuckten und verhöhnten. Da er sich von seinem Fall erholt hatte, von Scham verwirrt und den schlimmen Rath seiner Mutter verwünschend, kehrte er auf dem gewohnten Pfad zu dem unterirdischen Reiche zurück, aber er konnte den Eingang nicht wieder finden, ob er gleich ein ganzes Jahr lang suchte. Seine Freunde und seine Mutter brachten ihn endlich wohl zurück, und da er sich den gelehrten Studien nun ernstlicher als vorher zuwandte, so ward er auch im Laufe der Jahre zum Priester ordiniert. Aber so oft David der Zweite, Bischof von St. David, mit ihm – selbst noch in seinem Greisenalter – von diesem Ereignis sprach, so konnte Elidurus die einzelnen Umstände niemals ohne viele Tränen erzählen.

[Julius Rodenberg Märchen aus Wales]

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Der Geburtstag der Infantin

Es war der Geburtstag der Infantin. Sie war just zwölf Jahre alt, und die Sonne schien hell in den Gärten des Palastes.
Obgleich sie eine richtige Prinzessin und die Infantin von Spanien war, hatte sie nur einen einzigen Geburtstag in jedem Jahr, geradeso wie die Kinder ganz armer Leute, deshalb war es natürlich für das ganze Land eine Sache von höchster Wichtigkeit, dass sie aus diesem Anlass einen wahrhaft schönen Tag habe. Und ein wahrhaft schöner Tag war es zweifellos. Die hohen, gestreiften Tulpen standen kerzengerade auf ihren Stengeln wie lange Reihen Soldaten und blickten über den Rasen herausfordernd zu den Rosen und sagten: »Wir sind jetzt genauso prächtig wie ihr.« Die purpurnen Schmetterlinge flatterten mit Goldstaub auf den Flügeln umher und besuchten der Reihe nach alle Blumen, die kleinen Eidechsen krochen aus den Rissen in der Mauer und sonnten sich in dem blendendweißen Glast, und die Granatäpfel brachen in der Hitze auf und zeigten ihre blutenden Herzen. Selbst die blassgelben Zitronen, die in solcher Überfülle an den verwitterten Spalieren und in den dämmrigen Bogengängen hingen, schienen von dem herrlichen Sonnenlicht eine lebhaftere Färbung erhalten zu haben, und die Magnolienbäume öffneten ihre großen, kugelförmigen EIfenbeinblüten und erfüllten die Luft mit einem süßen, schweren Duft.
Die kleine Prinzessin selbst spazierte mit ihren Gefährten auf der Terrasse hin und her und spielte Versteck um die steinernen Vasen und die alten, moosbewachsenen Statuen. An gewöhnlichen Tagen durfte sie nur mit Kindern ihres Ranges spielen; aber ihr Geburtstag war eine Ausnahme, und der König hatte verfügt, sie solle einladen, wen von ihren jungen Freunden sie bei sich haben wolle, dass sie sich mit ihr vergnügten. Eine stolze Anmut lag um diese schlanken spanischen Kinder mit ihren gleitenden Bewegungen, die Knaben in ihren Hüten mit großen Federn und ihren kurzen, flatternden Mänteln und die Mädchen, die die Schleppen ihrer langen Brokatgewänder rafften und ihre Augen mit riesigen Fächern in Schwarz und Silber vor der Sonne schützten. Doch die Infantin war die Anmutigste von allen und am geschmackvollsten gekleidet nach der etwas hinderlichen Mode der Zeit. Ihr Gewand war aus grauem Atlas, am Saum und an den weiten, gepufften Ärmeln reich mit Silber bestickt, und das steife Mieder war mit Reihen schöner Perlen besetzt. Zwei winzige Pantöffelchen mit blassroten Rosetten guckten, wenn sie ging, unter ihrem Kleid hervor. Blassrot und perlgrau war ihr großer Gazefächer, und in dem Haar, das wie ein Strahlenkranz aus verblichenem Gold steif um ihr blasses Gesichtchen stand, trug sie eine schöne weiße Rose.
Von einem Fenster des Palastes aus sah ihnen der traurige, schwermütige König zu. Hinter ihm stand sein Bruder, Don Pedro von Aragon, den er hasste, und sein Beichtvater der Großinquisitor von Granada, saß neben ihm. Trauriger noch als sonst war der König, denn als er auf die Infantin blickte, wie sie sich mit kindlicher Würde vor den herbeikommenden Höflingen verneigte oder hinter ihrem Fächer über die grimmige Herzogin von Albuquerque, ihre ständige Begleiterin, lachte, da musste er an die junge Königin, ihre Mutter denken, die erst vor kurzem – so schien es ihm – aus dem heiteren Frankreich gekommen und in der düsteren Pracht des spanischen Hofes dahingewelkt war; sie starb sechs Monate nach der Geburt ihres Kindes und ehe sie die Mandelbäume im Obstgarten zum zweitenmal hatte blühen sehen oder die zweite Frucht des Jahres von dem alten, knorrigen Feigenbaum gepflückt hatte, der in der Mitte des nun mit Gras überwachsenen Hofes stand. So groß war seine Liebe zu ihr gewesen, dass er nicht einmal dem Grab gestattet hatte, sie vor ihm zu verbergen. Sie wurde von einem maurischen Arzt einbalsamiert, dem zum Dank für seine Dienste das Leben gewährt wurde, das, wie die Leute sagten, wegen Ketzerei und des Verdachtes magischer Künste bereits der Inquisition verfallen war, und ihr Leichnam lag immer noch auf der mit Teppichen behangenen Bahre in der schwarzen Marmorkapelle des Palastes, so wie die Mönche sie an jenem stürmischen Märztag vor nahezu zwölf Jahren hineingetragen hatten. Einmal im Monat ging der König, in einen dunklen Mantel gehüllt und eine abgeblendete Laterne in der Hand, dorthin und kniete an ihrer Seite nieder und rief: »Mi reina! Mi reina!«, und zuweilen durchbrach er die steife Etikette, die in Spanien jede persönliche Lebensäußerung beherrscht und selbst dem Schmerz eines Königs Grenzen setzt, und griff in wildem Herzeleid nach der bleichen, juwelengeschmückten Hand und versuchte mit seinen wahnsinnigen Küssen das kalte, bemalte Gesicht zu erwecken.
An diesem Tag schien er sie wieder vor sich zu sehen, wie er sie zum erstenmal im Schloss Fontainebleau erblickt hatte, als sie erst fünfzehn Jahre alt war und er noch jünger. Bei dieser Gelegenheit waren sie in Anwesenheit des französischen Königs und des gesamten Hofes von dem päpstlichen Nuntius in aller Form einander anverlobt worden, und er war in den Escorial zurückgekehrt, wohin er eine kleine Locke gelben Haares und die Erinnerung an zwei kindliche Lippen mitnahm, die sich niederbeugten, um seine Hand zu küssen, als er in seinen Wagen stieg. Später folgten die eilig in Burgos, einem kleinen Städtchen an der Grenze zwischen den beiden Ländern, vollzogene Eheschließung und der prächtige öffentliche Einzug in Madrid mit der üblichen Feier der Hochmesse in der Kirche Nuestra Señora de Atocha und einem feierlicheren Autodafé als sonst, bei dem nahezu dreihundert Ketzer, darunter viele Engländer, dem weltlichen Arm zur Verbrennung überliefert wurden.
Wahrlich, er hatte sie wahnsinnig geliebt und, wie viele meinten, zum Verderben seines Landes, das damals wegen der Herrschaft über die Neue Welt mit England im Krieg lag. Er hatte ihr kaum jemals gestattet, ihm aus den Augen zu geraten; um ihretwillen hatte er alle ernsten Staatsgeschäfte vernachlässigt oder schien sie außer acht zu lassen, und in jener schrecklichen Blindheit, mit welcher die Leidenschaft ihre Knechte schlägt, hatte er nicht wahrgenommen, dass die sorgfältig vorbereiteten Zeremonien, mit denen er sie zu ergötzen trachtete, die sonderbare Krankheit, an der sie litt, nur verschlimmerten. Als sie starb, war er eine Zeitlang wie einer, der seiner Vernunft beraubt ist. Tatsächlich gibt es keinen Zweifel darüber, dass er in aller Form abgedankt und sich in das große Trappistenkloster in Granada zurückgezogen hätte, dessen Titularprior er bereits war, wenn er nicht Angst gehabt hätte, die kleine Infantin der Gewalt seines Bruders auszuliefern, dessen Grausamkeit selbst in Spanien berüchtigt war und der von vielen verdächtigt wurde, den Tod der Königin durch ein Paar vergifteter Handschuhe herbeigeführt zu haben, die er ihr anlässlich ihres Besuches auf seinem Schloss in Aragon geschenkt hatte. Selbst nach Ablauf der drei Jahre währenden öffentlichen Trauer, die er durch ein königliches Edikt für seinen gesamten Herrschaftsbereich angeordnet hatte, erlaubte er seinen Ministern nie, über eine neue Heirat zu sprechen, und als der Kaiser selbst zu ihm sandte und ihm die Hand der lieblichen Erzherzogin von Böhmen, seiner Nichte, zur Ehe anbot, hieß er die Gesandten ihrem Herrn sagen, der König von Spanien sei bereits mit der Trauer vermählt, und obgleich sie eine unfruchtbare Braut sei, liebe er sie mehr als die Schönheit, eine Antwort, die seiner Krone die reichen Provinzen der Niederlande kostete, die sich bald darauf auf Anstiftung des Kaisers unter der Führung einiger Fanatiker der Reformierten Kirche gegen ihn erhoben.
Sein ganzes eheliches Leben mit seinen leidenschaftlichen, glühend gefärbten Freuden und der entsetzlichen Qual seines jähen Endes schien ihm an diesem Tag wiederzukehren, als er der Infantin bei ihrem Spiel auf der Terrasse zusah. Sie hatte in ihrem Betragen bereits ganz und gar den reizenden Übermut der Königin, die gleiche eigenwillige Art, den Kopf zurückzuwerfen, den gleichen stolz geschwungenen, schönen Mund, das gleiche wundervolle Lächeln – in der Tat das vrai sourire de France -, wenn sie hin und wieder zu dem Fenster aufblickte oder den vornehmen spanischen Herren die Hand zum Kuss entgegenstreckte. Doch das schrille Gelächter der Kinder verletzte seine Ohren, und das helle, erbarmungslose Sonnenlicht verhöhnte seinen Kummer, und ein dumpfiger Geruch fremdartiger Spezereien, wie sie zum Einbalsamieren gebraucht werden, schien – oder war es nur Einbildung? – die klare Morgenluft zu verpesten. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, und als die Infantin abermals hochblickte, waren die Vorhänge zugezogen, und der König hatte sich entfernt.
Sie zog ein Mäulchen der Enttäuschung und zuckte die Achseln. An ihrem Geburtstag hätte er doch wahrhaftig bei ihr bleiben können. Was kam es auf die dummen Staatsgeschäfte an? Oder war er zu der düsteren Kapelle gegangen, in der ständig Kerzen brannten und in die sie nie eintreten durfte? Wie töricht von ihm, da die Sonne so strahlend schien und jedermann so glücklich war! Außerdem würde er den gespielten Stierkampf versäumen, zu dem schon die Trompete erscholl, gar nicht zu reden von dem Puppenspiel und den anderen wundervollen Dingen. Ihr Onkel und der Großinquisitor waren viel gescheiter. Sie waren auf die Terrasse herausgekommen und machten ihrer Nichte Komplimente. Also warf sie ihren hübschen Kopf zurück, nahm Don Pedro bei der Hand und schritt langsam die Stufen hinab zu einem langen Zelt aus purpurner Seide, das am Ende des Gartens errichtet war, und die anderen Kinder folgten ihr in strenger Rangordnung, die mit den längsten Namen als erste.
Ein feierlicher Zug phantastisch als Toreadore gekleideter adliger Knaben kam ihr aus dem Zelt entgegen, und der junge Graf von Tierra-Nueva, ein wunderschöner Knabe von etwa vierzehn Jahren, entblößte seinen Kopf mit der ganzen Anmut eines geborenen Hidalgos und Granden von Spanien und führte sie feierlich hinein zu einem kleinen Sessel aus Gold und Elfenbein, der auf einer erhöhten Estrade über der Arena stand. Die Kinder gruppierten sich überall in der Runde, bewegten ihre großen Fächer und flüsterten miteinander, und Don Pedro und der Großinquisitor standen lachend am Eingang. Selbst die Herzogin – die Camarera mayor, wie sie genannt wurde -, ein mageres Weib mit harten Zügen und einer gelben Halskrause, sah nicht ganz so übellaunig aus wie sonst, und so etwas wie ein frostiges Lächeln flog über ihr runzliges Gesicht und zuckte um ihre dünnen, mutlosen Lippen.
Es war zweifellos ein herrlicher Stierkampf und viel hübscher, dachte die Infantin, als der richtige Stierkampf, zu dem man sie in Sevilla geführt hatte, als der Herzog von Parma ihren Vater besuchte. Einige der Knaben parodierten auf prächtig herausgeputzten Steckenpferden und schwangen lange Wurfspieße mit bunten Fähnchen aus leuchtenden Bändern, andere gingen zu Fuß und schwenkten ihre scharlachroten Mäntel vor dem Stier und sprangen mühelos über die Barriere, wenn er sie angriff, und was den Stier selbst betraf, so glich er haargenau einem lebendigen Stier, obgleich er aus Flechtwerk und gedehnter Haut gemacht war und sich mitunter darauf versteifte, auf seinen Hinterbeinen rund um die Arena zu laufen, was sich ein lebendiger Stier nie im Traum einfallen lässt. Er lieferte auch einen herrlichen Kampf und die Kinder wurden so aufgeregt, dass sie sich von ihren Bänken erhoben und mit ihren Spitzentaschentüchern winkten und »Bravo toro! Bravo toro!« riefen, genauso verständig, als wären sie erwachsene Leute. Am Ende jedoch, nach einem verlängerten Kampf, bei dem mehrere Steckenpferde ganz und gar durchbohrt und ihre Reiter aus dem Sattel gehoben wurden, zwang der junge Graf von Tierra-Nueva den Stier in die Knie, und nachdem er von der Infantin die Erlaubnis erhalten hatte, ihm den coup de grtice zu geben, stieß er dem Tier seinen hölzernen Degen mit solcher Gewalt in den Nacken, dass sogleich der Kopf abfiel und das lachende Gesicht des kleinen Monsieur de Lorraine zum Vorschein kam, des Sohns des französischen Gesandten in Madrid.
Darauf wurde die Arena unter großem Beifall geräumt, und die toten Steckenpferde wurden von zwei maurischen Pagen in gelbschwarzen Livreen feierlich abgeschleppt, und nach einem kurzen Zwischenspiel, das ein französischer Akrobat auf dem Straffseil ausfüllte, erschienen ein paar italienische Marionetten in der halb klassischen Tragödie >Sophonisbeden Tanz Unsrer Lieben Frauen<, wie er genannt wurde, nur vom Hörensagen gekannt, und es war wirklich ein schöner Anblick. Die Knaben trugen altmodische Hofgewänder aus weißem Samt, und ihre sonderbaren dreispitzigen Hüte waren mit silbernen Fransen verziert und überragt von riesigen Büschen Straußenfedern; das blendende Weiß ihrer Kostüme, als sie sich so im Sonnenlicht bewegten, wurde noch mehr hervorgehoben durch ihre dunklen Gesichter und ihr langes schwarzes Haar. Alle waren entzückt über die gemessene Würde, mit der sie sich durch die verschlungenen Figuren des Tanzes bewegten, und über die vollendete Anmut ihrer langsamen Gesten und vornehmen Verneigungen, und als sie ihre Vorführung beendet hatten und ihre großen Federhüte vor der Infantin zogen, nahm sie ihre Huldigung mit großer Höflichkeit entgegen und gelobte, für den Altar Unsrer Lieben Frau von Pilar zum Dank für das Vergnügen, das sie ihr bereitet. eine große Wachskerze zu stiften.
Dann betrat eine Truppe hübscher Ägypter – wie die Zigeuner zu jener Zeit genannt wurden – die Arena; sie setzten sich mit gekreuzten Beinen im Kreise und begannen leise auf ihren Zithern zu spielen, wobei sie den Körper nach der Melodie bewegten und mit halber Stimme ein leises, träumerisches Lied sangen. Als sie Don Pedros ansichtig wurden, warfen sie finstere Blicke auf ihn, und manchen von ihnen sah man die Furcht an, denn erst wenige Wochen zuvor hatte er zwei ihres Stammes wegen Hexerei auf dem Marktplatz von Sevilla hängen lassen; aber die hübsche Infantin, wie sie sich zurücklehnte und mit ihren großen blauen Augen über den Fächer guckte, bezauberte sie, und sie waren überzeugt, dass ein so liebliches Geschöpf wie sie niemals grausam gegen jemanden sein könne. So spielten sie weiter, sehr sanft und indem sie die Saiten der Zither nur eben mit den langen, spitzen Nägeln berührten, und ihre Köpfe sanken nieder, als fielen sie in Schlaf. Plötzlich, mit einem so geltenden Schrei, dass alle Kinder erschraken und Don Pedros Hand nach dem Achatknauf seines Dolches griff, sprangen sie auf die Füße und wirbelten wie toll in der Arena herum, ihre Tamburins schlagend und in ihrer seltsamen, gutturalen Sprache irgendein wildes Liebeslied singend. Dann, auf ein anderes Zeichen, warfen sie sich alle wieder zu Boden und lagen ganz still, das eintönige Klimpern der Zithern war der einzige Laut, der die Stille durchbrach. Nachdem sie dies mehrmals getan hatten, verschwanden sie für einen Augenblick und kehrten mit einem zottigen braunen Bären zurück, den sie an der Kette führten, und ein paar kleinen Berberaffen, die sie auf der Schulter trugen. Der Bär stand mit äußerster Würde auf dem Kopf, und die runzligen Äffchen trieben allerlei Possen mit zwei Zigeunerbuben, die ihre Lehrmeister zu sein schienen, und fochten mit winzigen Schwertern und feuerten Kanonen ab und vollführten ein regelrechtes Exerzieren, geradeso wie des Königs Leibwache. Die Zigeuner waren in der Tat ein großer Erfolg.
Der spaßigste Teil der ganzen Vormittagsunterhaltung war jedoch zweifellos das Tanzen des kleinen Zwerges. Als er, auf seinen krummen Beinen torkelnd und mit dem großen, missgestalteten Kopf wackelnd, in die Arena stolperte, brachen die Kinder in lautes Jubelgeschrei aus, und selbst die Infantin lachte so sehr, dass sich die Camarera genötigt sah, sie an folgende Tatsache zu erinnern: Wenn es auch in Spanien viele Fälle gäbe, da eine Königstochter vor ihresgleichen geweint habe, so gäbe es doch kein einziges Beispiel dafür, dass eine Prinzessin von königlichem Geblüt so vergnügt gewesen sei in Anwesenheit solcher, die ihr an Herkunft nachstünden. Doch der Zwerg war wirklich ganz unwiderstehlich, und selbst am spanischen Hofe, der von jeher dafür bekannt war, seiner Leidenschaft für das Grässliche zu frönen, hatte man nie eine so wunderliche kleine Missgeburt gesehen. Es war auch sein erstes Auftreten. Erst tags zuvor war er, als er wie wild durch den Wald lief, von zwei Adligen entdeckt worden, die zufällig mit anderen in einem entlegenen Teil des großen Korkeichenwaldes jagten, der die Stadt umgibt, und sie hatten ihn als eine Überraschung für die Infantin in den Palast gebracht, da sein Vater, ein armer Köhler, nur allzu froh war, ein so hässliches und nutzloses Kind loszuwerden. Vielleicht war das Ergötzlichste an ihm, dass er überhaupt keine Ahnung davon hatte, wie grotesk er aussah. In der Tat schien er durchaus glücklich zu sein und munterster Laune. Wenn die Kinder lachten, dann lachte er so unbefangen und fröhlich wie nur irgendeines, und am Ende jedes Tanzes verbeugte er sich vor allen auf die drolligste Weise und lächelte und nickte ihnen zu, als gehöre er wirklich zu ihnen und wäre nicht ein missgestaltes kleines Geschöpf, das die Natur in einer sonderbaren Laune erschaffen hatte, damit andere ihren Spaß an ihm hätten. Und die Infantin bezauberte ihn ganz und gar. Er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden und schien nur für sie zu tanzen, und als sie sich am Schluss seiner Darbietung daran erinnerte, wie die vornehmen Damen des Hofes dem berühmten italienischen Sopranisten Caffarelli, den der Papst aus seiner Kapelle nach Madrid geschickt hatte, damit er durch den lieblichen Wohlklang seiner Stimme den König von seiner Schwermut heile, Blumensträuße zugeworfen hatten, und als sie aus ihrem Haar die schöne weiße Rose löste und sie ihm, halb aus Spaß, halb um die Camarera zu ärgern, mit ihrem süßesten Lächeln durch die Arena zuwarf, da nahm er die ganze Sache durchaus für Ernst und drückte die Blume an seine rauhen, dicken Lippen, legte die Hand auf sein Herz und sank vor ihr in die Knie, von einem Ohr bis zum andern grinsend und ein Funkeln der Freude in seinen blanken kleinen Augen.
Das überwältigte die Würde der Infantin so sehr, dass sie noch lange, nachdem der kleine Zwerg aus der Arena gelaufen war, weiterlachte und ihrem Onkel den Wunsch kundgab, der Tanz solle augenblicklich wiederholt werden. Die Camarera entschied jedoch, unter dem Vorwand, die Sonne brenne zu heiß, dass es besser wäre, wenn Ihre Hoheit ohne Zögern in den Palast zurückkehre, wo bereits ein herrliches Festmahl für sie bereitstünde, einschließlich eines richtigen Geburtstagskuchens mit ihren Initialen aus buntem Zucker und einem allerliebsten silbernen Fähnchen, das von der Spitze wehe. Also erhob sich die Infantin, höchst würdevoll, und nachdem sie Befehl gegeben hatte, dass der kleine Zwerg nach der Siestastunde abermals vor ihr tanzen solle, und nachdem sie dem jungen Grafen von Tierra-Nueva ihren Dank für den reizenden Empfang ausgesprochen hatte, ging sie zurück in ihre Gemächer, und die Kinder folgten ihr in der gleichen Rangordnung, in der sie eingetreten waren.
Als nun der kleine Zwerg vernahm, dass er ein zweites Mal und auf ihren ausdrücklichen Befehl vor der Infantin tanzen sollte, war er so stolz, dass er in den Garten hinauslief und in alberner Wonneverzückung die weiße Rose küsste und sich in den wunderlichsten und unbeholfensten Gebärden erging.
Die Blumen waren ganz entrüstet über seine Dreistigkeit, in ihre schöne Heimstatt einzudringen, und als sie ihn die Spazierwege auf und nieder hüpfen und auf eine so lächerliche Weise die Arme über dem Kopf schwenken sahen, konnten sie ihre Gefühle nicht länger zurückhalten.
»Er ist wahrhaftig bei weitem zu hässlich, um an einem Ort spielen zu dürfen, an dem wir uns befinden«, riefen die Tulpen.
»Er sollte Mohnsaft trinken und tausend Jahre schlafen«, sagten die großen Feuerlilien und wurden ganz hitzig und wütend.
»Er ist ein wahrer Graus!« schrie der Kaktus. »Er ist ja ganz krumm und klotzig, und sein Kopf steht in gar keinem Verhältnis zu seinen Beinen. Mich prickelt es richtig bei seinem Anblick, und wenn er mir in die Nähe kommt, werde ich ihn mit meinen Stacheln pieken.«
»Und er hat tatsächlich eine meiner besten Blüten«, rief der weiße Rosenstrauch. »Ich gab sie heute morgen selber der Infantin als Geburtstagsgeschenk, und er hat sie ihr gestohlen.« Und er rief, so laut er konnte: »Dieb, Dieb, Dieb!«
Selbst die roten Geranien, die sich sonst nicht hervortaten und dafür bekannt waren, dass sie selber eine Unmenge armer Verwandter besaßen, rümpften vor Abscheu die Nase als sie ihn sahen, und als die Veilchen sanft bemerkten, er sei zwar höchst unschön, doch das könne er nicht ändern, erwiderten sie sehr zu Recht, das sei gerade sein Hauptfehler, und es gäbe keinen Grund, warum man einen Menschen bewundern solle, weil er unheilbar sei, und tatsächlich hatten einige Veilchen selber das Gefühl, dass die Hässlichkeit des kleinen Zwerges nahezu protzig war und dass er viel besseren Geschmack bewiesen hätte, wenn er traurig oder zumindest nachdenklich aussähe, statt fröhlich umherzuhüpfen und sich auf so groteske und alberne Gebärden zu verlegen.
Was die alte Sonnenuhr betraf, die eine höchst bemerkenswerte Persönlichkeit war und die einstmals keinem Geringeren als Kaiser Karl V. die Tageszeit angegeben hatte, so war sie dermaßen bestürzt über das Äußere des kleinen Zwerges, dass sie fast zwei volle Minuten mit ihrem langen Schattenfinger anzuzeigen vergaß und nicht umhin konnte, zu dem prächtigen, milchweißen Pfau, der sich auf der Balustrade sonnte, zu bemerken, jedermann wisse, dass die Königskinder Könige wären und die Köhlerkinder Köhler, und es sei gegen alle Vernunft, zu behaupten, dem sei nicht so; eine Feststellung, mit welcher der Pfau völlig einverstanden war; und tatsächlich schrie er mit einer so lauten, misstönenden Stimme: »Gewiss, gewiss!«, dass die Goldfische, die in dem Becken des kühlen, sprühenden Springbrunnens wohnten, die Köpfe aus dem Wasser streckten und die riesigen steinernen Tritonen fragten, was in aller Welt denn nur los sei.
Aber den Vögeln gefiel er irgendwie. Sie hatten ihn oft im Wald gesehen, wenn er wie ein Kobold hinter den wirbelnden Blättern her tanzte oder in der Höhlung einer alten Eiche kauerte und seine Nüsse mit den Eichhörnchen teilte. Ihnen machte es nicht das geringste aus, dass er hässlich war. Je nun, schließlich war nicht einmal die Nachtigall, die des Nachts so süß in den Orangenhainen sang, dass sich zuweilen der Mond hernieder beugte, um zu lauschen, besonders ansehnlich, und außerdem war er so freundlich gegen sie gewesen, und in jenem schrecklich bitterkalten Winter, als keine Beeren an den Bäumen hingen und der Boden hart war wie Eisen und die Wölfe auf der Suche nach Futter bis zu den Toren der Stadt herabgekommen waren, hatte er sie niemals vergessen, sondern ihnen stets Krumen von seinem kleinen Kanten Schwarzbrot abgegeben und sein Frühstück mit ihnen geteilt, wie karg es auch sein mochte.
So umkreisten sie ihn immerfort, nur eben seine Wange im Vorbeifliegen mit den Flügeln streifend, und zwitscherten miteinander, und der kleine Zwerg freute sich so sehr, dass er ihnen unbedingt die schöne weiße Rose zeigen und ihnen erzählen musste, dass die Infantin selbst sie ihm geschenkt habe, weil sie ihn liebe.
Sie verstanden nicht ein einziges Wort von dem, was er sagte, aber das machte nichts; denn sie legten die Köpfe auf die Seite und blickten verständig drein, was gerade so gut ist, wie eine Sache verstehen, und sehr viel bequemer.
Auch die Eidechsen fassten große Zuneigung zu ihm, und als er vom Umherlaufen müde wurde und sich ins Gras niederwarf, um auszuruhen, spielten und tollten sie auf ihm herum und versuchten ihn so gut zu unterhalten, wie sie nur konnten. »Nicht jeder kann so schön sein wie eine Eidechse«, riefen sie, »das hieße zu viel erwarten. Und obgleich es absurd klingt, so etwas zu sagen, alles in allem ist er eigentlich gar nicht so hässlich, vorausgesetzt natürlich, man macht die Augen zu und sieht ihn nicht an.« Die Eidechsen waren von Natur aus höchst philosophisch und hockten oft, wenn nichts anderes zu tun oder wenn das Wetter zum Ausgehen zu regnerisch war, Stunden und Stunden beisammen und dachten nach.
Doch die Blumen waren im höchsten Grade verärgert über ihr Benehmen und über das Benehmen der Vögel. »Das beweist nur«, sagten sie, »welch eine erniedrigende Wirkung dies dauernde Umherrennen und -fliegen hat. Wohlerzogene Leute bleiben stets an genau dem selben Platz, so wie wir es tun. Keiner hat uns je die Wege auf und nieder hopsen oder wie verrückt durch das Gras nach Libellen rennen sehen. Wenn wir eine Luftveränderung brauchen, schicken wir nach dem Gärtner, und er setzt uns in ein anderes Beet. Das ist würdevoll und so, wie es sein sollte. Aber Vögel und Eidechsen haben keinen Sinn für Ruhe, und die Vögel haben wahrhaftig nicht einmal eine ständige Adresse. Sie sind bloß Vagabunden wie die Zigeuner und sollten auf genau die gleiche Weise behandelt werden.« So reckten sie ihre Nasen in die Luft und blickten sehr hochmütig drein und waren sehr froh, als sie nach geraumer Zeit den Zwerg aus dem Gras krabbeln und seines Weges gehen sahen, über die Terrasse zu dem Palast.
»Man sollte ihn wirklich für den Rest seines Erdenlebens im Hause halten«, sagten sie. »Seht nur seinen buckligen Rücken und seine krummen Beine«, und sie kicherten.
Doch der kleine Zwerg wusste von all dem nichts. Ihm gefielen die Vögel und die Eidechsen über die Maßen, und die Blumen hielt er für das Wundervollste auf der ganzen Welt, ausgenommen natürlich die Infantin; aber die hatte ihm auch die schöne weiße Rose gegeben, und sie liebte ihn, und das machte einen großen Unterschied. Wie sehr wünschte er sich, er wäre mit ihr zurück gegangen! Sie hätte ihn zu ihrer Rechten befohlen und ihn angelächelt, und nie wäre er von ihrer Seite gewichen, sondern wäre ihr Spielgefährte geworden und hätte sie alle nur erdenklichen herrlichen Kunststücke gelehrt. Denn obgleich er nie zuvor in einem Palast gewesen war, kannte er eine Unmenge wundervoller Dinge. Er konnte aus Einsen kleine Käfige für die Grashüpfer machen, dass sie darin zirpten, und den langgliedrigen Bambus zu einer Pfeife schneiden, die Pan so gern hört. Er kannte den Ruf jedes Vogels und konnte die Stare aus dem Baumwipfel und den Reiher vom See herbeilocken. Er kannte die Spur jedes Tieres und konnte den Hasen nach seinen schwachen Fußabdrücken und den Keiler nach den niedergetrampelten Blättern verfolgen. Alle Tänze des Windes kannte er, den tollen Tanz in rotem Gewand mit dem Herbst, den frohen Tanz in blauen Sandalen über dem Korn, den Tanz mit weißen Schneewehen im Winter und den Blütentanz durch die Obstgärten im Frühling. Er wusste, wo die Waldtauben ihre Nester bauten, und einmal, als ein Vogelsteller die Vogeleltern gefangen hatte, zog er die jungen selber auf und baute ihnen im Riss einer gekappten Ulme einen kleinen Taubenschlag. Sie waren ganz zahm und fraßen ihm jeden Morgen aus den Händen. Sie würden ihr gefallen, und auch die Kaninchen, die in dem hohen Farn umherliefen, und die Häher mit ihren stahlblauen Federn und schwarzen Schnäbeln und die Igel, die sich zu stachligen Bällen einrollten, und die großen, weisen Schildkröten, die bedächtig umherkrochen, ihre Köpfe schüttelten und an den jungen Blättern knabberten. ja, sie musste bestimmt in den Wald kommen und mit ihm spielen. Er würde ihr sein eigenes Bettchen geben und bis zum Morgengrauen draußen vor dem Fenster wachen und aufpassen, dass ihr das wilde Hornvieh nichts zuleide tat oder dass sich die mageren Wölfe nicht zu nahe an die Hütte heranschlichen. Und wenn es dämmerte, würde er an die Fensterläden pochen und sie wecken, und sie würden hinausgehen und den ganzen Tag zusammen tanzen. Es war wirklich kein bisschen einsam im Wald. Manchmal ritt auf seinem weißen Maultier ein Bischof durch den Wald und las aus einem buntbemalten Buch. Manchmal kamen in ihren grünen Samtkappen und Wämsen aus gegerbtem Hirschleder die Falkeniere vorbei, die aufgekappten Falken auf dem Handgelenk. Zur Zeit der Weinlese kamen die Kelterer mit purpurroten Händen und Füßen, mit blankem Efeu umkränzt, und trugen tropfende Weinschläuche, und die Köhler saßen des Nachts um ihre riesigen Kohlenpfannen und beobachteten, wie die trockenen Scheite langsam im Feuer verkohlten, und rösteten Kastanien in der Asche, und die Räuber kamen aus ihren Höhlen und schmausten mit ihnen. Einmal hatte er auch eine schöne Prozession gesehen, die sich die lange staubige Straße nach Toledo hinaufwand. Voran gingen mit holdem Gesang die Mönche und trugen lichte Banner und Kreuze von Gold, und dann kamen in silberner Rüstung mit Musketen und Piken die Soldaten, und in ihrer Mitte gingen drei barfüßige Männer in seltsamen, gelben Gewändern, die über und über mit wundervollen Figuren bemalt waren, und trugen angezündete Kerzen in den Händen. Wirklich es gab im Wald eine Unmenge zu sehen, und wenn sie müde wäre, würde er ihr eine weiche Moosbank suchen oder sie auf den Armen tragen; denn er war sehr stark, wenn auch nicht groß, wie er wusste. Er würde ihr eine Halskette aus den roten Beeren der Zaunrebe machen, die wäre dann genauso hübsch wie die weißen Beeren an ihrem Kleid, und wenn sie ihrer überdrüssig war, konnte sie sie wegwerfen, und er würde ihr andere suchen. Er würde ihr Eichelnäpfe und mit Tau gefüllte Anemonen bringen und winzige Glühwürmchen als Sterne für das blasse Gold ihres Haars.
Doch wo war sie? Er fragte die weiße Rose, aber sie gab ihm keine Antwort. Der ganze Palast schien zu schlafen, und selbst wo die Läden nicht geschlossen waren, hatte man schwere Vorhänge vor die Fenster gezogen, um das blendende Licht auszuschließen. Er wanderte um den ganzen Palast und suchte nach einer Stelle, wo er hineingelangen könnte, und schließlich erblickte er eine kleine verborgene Tür, die offen stand. Er schlüpfte hindurch und sah sich in einem herrlichen Saal, viel herrlicher, fürchtete er, als der Wald; denn überall war soviel mehr Vergoldetes, und selbst der Fußboden war aus großen, bunten Steinen, die zu einer Art geometrischem Muster zusammengefügt waren. Aber die kleine Infantin war nicht da, nur ein paar wundervolle weiße Statuen, die von ihren Jaspispiedestalen mit traurigen, leeren Augen und seltsam lächelnden Lippen auf ihn nieder blickten.
Am Ende des Saales hing ein reichbestickter Vorhang aus schwarzem Samt, mit Sonnen und Sternen, den Lieblingssymbolen des Königs, besät und auf jene Farbe gestickt, die ihm die liebste war. Vielleicht verbarg sie sich dahinter? Er wollte es auf jeden Fall erforschen.
Deshalb schlich er sich leise hin und zog ihn beiseite. Nein, da war nur ein zweiter Raum, wenngleich noch hübscher, wie ihm schien, als jener, den er soeben verlassen hatte. Die Wände waren mit einem handgearbeiteten, an Bildern reichen grünen Arrazo behangen, der eine Jagd darstellte, das Werk flämischer Künstler, die mehr als sieben Jahre gebraucht hatten, es zu schaffen. Einst hatte das Gemach Jean le Fou gehört, wie er genannt wurde, jenem wahnsinnigen König, der so verliebt in die Jagd gewesen war, dass er in seiner Geistesverwirrung oft versucht hatte, die mächtigen, sich räumenden Pferde zu besteigen und den Hirsch hinabzuziehen, den die großen Hetzhunde ansprangen, wozu er sein Hifthorn blies und mit seinem Dolch nach dem matten, fliehenden Wild stach. jetzt wurde es als Beratungszimmer benutzt, und auf dem Mitteltisch lagen die roten Portefeuilles der Minister mit den in Gold geprägten Tulpen Spaniens und dem Wappen und den Emblemen des Hauses Habsburg.
Der kleine Zwerg blickte verwundert um sich und fürchtete sich fast, weiterzugehen. Die seltsamen, schweigenden Reiter, die so hurtig durch die langen Lichtungen galoppierten, ohne das mindeste Geräusch zu verursachen, erschienen ihm wie jene schrecklichen Gespenster, von denen er die Köhler hatte sprechen hören – die Comprachos, die nur des Nachts jagen, und wenn sie einem Menschen begegnen, verwandeln sie ihn in eine Hindin und hetzen ihn. Doch er dachte an die hübsche Infantin und fasste sich ein Herz. Er wollte sie finden, wenn sie allein war, und ihr sagen, dass auch er sie liebe. Vielleicht war sie in dem nächsten Zimmer.
Er lief über die weichen maurischen Teppiche und öffnete die Tür. Nein! Dort war sie auch nicht. Der Raum war ganz leer.
Es war ein Thronsaal, der zum Empfang ausländischer Gesandter benutzt wurde, wenn der König einwilligte, was in der letzten Zeit nicht oft geschehen war, ihnen eine Privataudienz zu gewähren, der gleiche Raum, in dem vor vielen Jahren Gesandte aus England erschienen waren, um Abmachungen über die Heirat ihrer Königin, die damalige zählte zu den katholischen Souveränen Europas, mit dem ältesten Sohn des Kaisers zu treffen. Die Wandbekleidung war aus vergoldetem Korduanleder, und ein schwerer vergoldeter Kronleuchter mit Armen für dreihundert Wachskerzen hing von der schwarzweißen Decke. Unter einem großen Baldachin aus Goldgewebe, auf den mit Staubperlen die Löwen und Türme von Kastilien gestickt waren, stand der Thron, mit einer kostbaren Hülle aus schwarzem Samt, die mit silbernen Tulpen besät und kunstvoll mit Silber und Perlen besetzt war. Auf der zweiten Thronstufe stand der Knieschemel der Infantin mit seinem Kissen aus Silberbrokat, und noch tiefer und abseits vom Bereich des Thronhimmels befand sich der Sessel für den päpstlichen Nuntius, der als einziger das Recht hatte, in Gegenwart des Königs bei jedem öffentlichen Zeremoniell zu sitzen, und dessen Kardinalshut mit den gedrehten scharlachroten Quasten auf einem purpurnen Taburett davor lag. An der Wand gegenüber dem Thron hing ein lebensgroßes Bild Karls V. in Jagdkleidung, mit einer riesigen Bulldogge an seiner Seite, und ein Bild Philipps II., wie er die Huldigung der Niederlande empfängt, nahm die Mitte der anderen Wand ein. Zwischen den Fenstern stand ein Schrank aus schwarzem Ebenholz mit eingelegten EIfenbeintafeln, in die Gestalten aus Holbeins Totentanz geschnitten waren – von der Hand jenes berühmten Meisters selbst, wie manche behaupteten.
Doch der kleine Zwerg kümmerte sich nicht um die ganze Herrlichkeit. Er hätte seine Rose nicht hergegeben für alle Perlen vom Thronhimmel, nicht ein weißes Blütenblatt für den Thron selbst. Was er sich wünschte, war, die Infantin zu sehen, ehe sie zu dem Zelt hinabging, und sie zu bitten, sie möge mit ihm fortgehen, wenn er seinen Tanz beendet habe. Hier im Palast war die Luft bedrückend und schwer, doch im Wald blies der Wind ungehemmt, und das Sonnenlicht schob mit unsteten Goldhänden die zitternden Blätter beiseite. Es gab auch Blumen im Wald, nicht so prächtige vielleicht wie die Blumen im Garten, aber dennoch süßer duftend: Hyazinthen im Vorfrühling, die mit wogendem Purpur die kühlen Schluchten und die grasbewachsenen Hügelkuppen überfluteten, gelbe Schlüsselblumen, die sich in kleinen Büscheln an die knorrigen Wurzeln der Eichen schmiegten, leuchtendes Schöllkraut und blauer Ehrenpreis und Iris in Lila und Gold. An den Haselbüschen hingen graue Kätzchen, und der rote Fingerhut neigte sich unter dem Gewicht seiner ständig von Bienen besuchten getüpfelten Stübchen. Die Kastanie hatte ihre Spitztürme weißer Sterne und der Weißdorn seine bleichen Monde der Schönheit. ja, bestimmt würde sie mitkommen, wenn er sie nur finden könnte! Sie würde mit ihm kommen in den schönen Wald, und den ganzen Tag würde er zu ihrer Freude tanzen. Ein Lächeln erhellte bei diesem Gedanken seine Augen, und er ging in den nächsten Raum.

Von allen Räumen war dies der prächtigste und schönste. Die Wände waren mit in sich geblümtem blassrotem Lucceser Damast bespannt, der ein Muster von Vögeln und zierlichen silbernen Blüten trug; die Möbel aus massivem Silber schmückten Blumengirlanden und schaukelnde Liebesgötter; vor den beiden gewaltigen Kaminen standen große, mit Papageien und Pfauen bestickte Paravents, und der Fußboden aus meergrünem Onyx schien sich weit in die Ferne zu dehnen. Er befand sich auch nicht allein. Unter dem Schatten des Türbogens am äußersten Ende des Raumes sah er eine kleine Gestalt stehen, die ihn beobachtete. Sein Herz bebte, ein Freudenschrei löste sich von seinen Lippen, und er trat hinaus in das Sonnenlicht. Als er es tat, trat auch die Gestalt hervor, und er nahm sie deutlich wahr.
Die Infantin? Eine Missgeburt war es, die lächerlichste Missgeburt, die er je gesehen hatte. Nicht ansehnlich von Gestalt wie alle anderen Leute, sondern bucklig und krummbeinig, mit einem mächtigen Hängekopf und einer Zottelmähne schwarzen Haares. Der kleine Zwerg runzelte die Stirn, und die Missgeburt runzelte ebenfalls die Stirn. Er lachte, und sie lachte mit und hielt sich die Seiten, geradeso wie er selbst. Er machte ihr eine spöttische Verbeugung, und sie erwiderte sie mit einer tiefen Reverenz. Er ging auf sie zu, und sie kam ihm entgegen, jeden Schritt nachahmend, den er tat, und blieb stehen, wenn er selbst stehen blieb. Er jauchzte vor Vergnügen und lief vorwärts und streckte die Hand aus, und die Hand der Missgeburt berührte die seine, und sie war kalt wie Eis. Er bekam Angst und führte seine Hand über die Brust, und die Hand der Missgeburt machte es ihr hurtig nach. Er versuchte, vorwärts zu drängen, aber etwas Glattes und Hartes gebot ihm Einhalt. Das Gesicht der Missgeburt war jetzt dicht vor dem seinen und schien voller Entsetzen. Er strich sich das Haar aus den Augen. Sie äffte ihm nach. Er schlug nach ihr, und sie gab ihm Schlag für Schlag zurück Er zeigte seinen Abscheu vor ihr, und sie schnitt ihm abscheuliche Gesichter. Er zog sich zurück, und sie entfernte sich von ihm.
Was war das? Er überlegte einen Augenblick und sah sich nach dem anderen Teil des Raumes um. Es war sonderbar, aber alles schien in dieser unsichtbaren Wand aus klarem Wasser sein Ebenbild zu haben. Ja, Bild für Bild wiederholte sich und ein Ruhebett um das andere. Der schlafende Faun, der in dem Alkoven neben dem Türbogen lag, hatte seinen schlummernden Zwillingsbruder, und die silberne Venus, die im Sonnenlicht stand, hielt ihre Arme einer ebenso lieblichen Venus entgegen.
War es das Echo? Er hatte es einmal im Tal angerufen, und es hatte ihm Wort für Wort geantwortet. Konnte es das Auge narren, wie es die Stimme nachäffte? Konnte es eine Scheinwelt schaffen, geradeso wie die richtige Welt? Konnten die Schatten der Dinge Farbe, Leben und Bewegung haben? Konnte es sein, dass … ?
Er erschrak, und während er von seiner Brust die schöne weiße Rose nahm, drehte er sich um und küsste sie. Die Missgeburt hatte auch eine Rose, Blatt für Blatt die gleiche! Sie küsste sie mit gleichen Küssen und drückte sie mit grässlichen Gebärden an die Brust.
Als ihm die Wahrheit dämmerte, stieß er einen wilden Schrei der Verzweiflung aus und fiel schluchzend zu Boden. Also war er es, der missgestalt und bucklig, widerwärtig anzusehen und lächerlich war. Er selbst war die Missgeburt, und über ihn hatten alle Kinder gelacht, und die kleine Prinzessin, von der er geglaubt hatte, sie liebe ihn – auch sie hatte sich nur über seine Hässlichkeit lustig gemacht und ihren Spaß gehabt an seinen verdrehten Beinen. Warum hatten sie ihn nicht im Wald gelassen, wo es keinen Spiegel gab, der ihm erzählte, wie abscheulich er war? Warum hatte ihn sein Vater nicht lieber getötet, als ihn zu seiner Schmach zu verkaufen? Heiße Tränen rannen über seine Wangen hernieder, und er zerpflückte die weiße Rose. Die auf dem Boden liegende Missgeburt tat das gleiche und warf die welken Blütenblätter in die Luft. Sie lag bäuchlings am Boden, und wenn er sie ansah, beobachtete sie ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er kroch fort, damit er sie nicht sähe, und bedeckte die Augen mit den Händen. Er kroch wie ein verwundetes Geschöpf in den Schatten und blieb dort stöhnend liegen.
Und in diesem Augenblick kam die Infantin mit ihren Gefährten durch die offene Fenstertür herein, und als sie den hässlichen kleinen Zwerg sahen, wie er da an der Erde lag und auf die wunderlichste und überspannteste Weise mit seinen geballten Fäusten auf den Boden schlug, da brachen sie in einen Jubel glücklichen Gelächters aus und stellten sich um ihn und beobachteten ihn.
»Sein Tanzen war drolliger, sagte die Infantin, »aber seine Schauspielkunst ist noch drolliger. Er ist wahrhaftig beinahe so gut wie die Marionetten, nur selbstredend nicht ganz so natürlich.« Und sie bewegte ihren großen Fächer und applaudierte.
Aber der kleine Zwerg blickte nicht hoch, und sein Schluchzen wurde schwächer und schwächer, und plötzlich japste er auf sonderbare Weise nach Luft und griff sich in die Seite. Und dann fiel er wieder zurück und lag ganz still.
»Famos«, sagte die Infantin nach einer Pause, »aber jetzt musst du für mich tanzen.«
»Ja«, riefen alle Kinder, »du musst aufstehen und tanzen, denn du bist so geschickt wie die Berberaffen und viel komischer.«
Doch der kleine Zwerg gab keine Antwort.
Und die Infantin stampfte mit dem Fuß auf und rief ihren Onkel an, der draußen auf der Terrasse mit dem Kämmerer spazierte und einige Depeschen las, die soeben aus Mexico angelangt waren, wo man vor kurzem die Inquisition eingesetzt hatte. »Mein drolliger kleiner Zwerg schmollte, rief sie, »du musst ihn aufrütteln und ihm befehlen, dass er für mich tanzt.« Sie lächelten einander zu und schlenderten hinein, und Don Pedro beugte sich nieder und schlug dem Zwerg mit seinem gestickten Handschuh auf die Wange. »Du musst tanzen, petit monstre«, sagte er. »Du musst tanzen. Die Infantin von Spanien und den beiden Indien wünscht, unterhalten zu werden.«
Doch der kleine Zwerg rührte sich nicht.
»Man sollte einen Auspeitscher kommen lassen«, sagte Don Pedro müde und ging wieder auf die Terrasse. Der Kämmerer machte jedoch ein ernstes Gesicht und kniete sich neben den kleinen Zwerg und legte die Hand auf sein Herz. Und wenige Augenblicke später zuckte er die Achseln und stand auf, und nach einer tiefen Verneigung vor der Infantin sagte er: »Mi bella princesa, Euer drolliger kleiner Zwerg wird nie wieder tanzen. Schade drum, denn er ist so hässlich, dass er vielleicht den König zum Lächeln gebracht hätte.«
»Aber warum wird er nicht tanzen?« fragte die Infantin lachend.
»Weil ihm das Herz gebrochen ist«, antwortete der Kämmerer.
Und die Infantin runzelte die Stirn und warf in reizender Verachtung die hübschen rosenblättrigen Lippen auf. »In Zukunft lasst die, die zu mir spielen kommen, keine Herzen haben«, rief sie und lief hinaus in den Garten.

Quelle: (Oscar Wilde)

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Der opferwillige Freund

Eines Morgens steckte der alte Wasserratz den Kopf aus seinem Loche. Er hatte blanke Kulleraugen, einen borstigen grauen Kotelettenbart und einen Schwanz wie ein langes Stück schwarzer Radiergummi. Die kleinen Enten schwammen auf dem Teich spazieren und sahen genau wie ein Schwarm gelber Kanarienvögel aus, und ihre Mutter, die ganz reinweiß war mit echtroten Beinen, versuchte ihnen beizubringen, wie man im Wasser Kopf steht.
„Ihr werdet niemals zur feinsten Gesellschaft zugelassen werden, wenn ihr nicht Kopf stehen könnt“, sagte sie unausgesetzt zu den Kleinen; und alle Augenblicke führte sie ihnen von neuem vor, wie man’s macht. Aber die kleinen Enten passten überhaupt nicht auf. Sie waren noch so jung und unerfahren, dass sie nicht wussten, von welch großem Nutzen es ist, zur feinen Gesellschaft zugelassen zu sein. „Was für ungehorsame Kinder!“ schrie der alte Wasserratz, „sie verdienten weiß Gott, dass man sie ertränkte.“
„Beileibe nicht!“ erwiderte die Ente, „es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, und Eltern können nie geduldig genug sein.“
„Ach so! Ich verstehe nichts von elterlichen Gefühlen“, sagte der Wasserratz, „ich bin kein Familienmensch. Ob Sie’s glauben oder nicht – Tatsache ist, dass ich niemals verheiratet war, und ich habe auch nicht im Sinn, es nachzuholen. Liebe ist auf ihre Art ja sehr hübsch, aber Freundschaft ist weitaus erhabener. Ich wüsste wahrhaftig nichts auf der Welt, das edler oder auch seltener wäre als aufopfernde Freundschaft.“
„Und was, wenn ich bitten darf, sind Ihrer Meinung nach die Pflichten eines opferwilligen Freundes?“ fragte ein Grünhänfling, der nahebei in einem Weidenbaume saß und der Unterhaltung zugehört hatte. „Ja, das würde mich auch furchtbar interessieren“, sagte die Ente und schwamm davon bis ans Ende des Teiches und stellte sich auf den Kopf, um ihren Kindern ein gutes Beispiel zu geben.
„So , ne dumme Frage!“ rief der Wasserratz. „Ich würde selbstverständlich erwarten, dass mein opferwilliger Freund sich für mich opfert.“
„Und was würden Sie als Gegenleistung für ihn tun?“ fragte der kleine Vogel und schaukelte sich, mit den zierlichen Flügeln schlagend, auf einem silbrig grauen Zweige. „Ich verstehe Sie nicht“, entgegnete der Wasserratz. „so will ich Ihnen eine Geschichte zu dem Thema erzählen“, sagte der Hänfling.
„Handelt sie von mir?“ fragte der Wasserratz. „In diesem Falle will ich sie mir anhören, denn ich bin ganz verrückt auf Romane aus dem Leben.“
„Die Geschichte lässt sich auf Sie anwenden“, sagte der Hänfling; und er flog herab, setzte sich auf die Uferböschung und erzählte die

Geschichte vom opferwilligen Freund

„Es war einmal“, begann der Hänfling, „es war einmal ein redlicher Bursche, der hieß Hans.“
„War er was Großes, was Ausgezeichnetes?“ fragte der Wasserratz.
„Nein“, antwortete der Hänfling, „ich glaube kaum, dass irgend etwas groß an dem kleinen Hans war außer seiner Herzensgüte, auch zeichnete ihn wohl nichts weiter aus als sein lustiges, gutmütiges Vollmondgesicht. Er wohnte ganz für sich in einem kleinen Hüttchen und arbeitete jeden Tag in seinem Garten. In der ganzen Gegend war kein Garten so schön wie seiner. Federnelken wuchsen darin und Goldlack und Hirtentäschel und Eisenhut. Da waren gelbe Rosen und rote Damaszenerrosen, lila Krokus und goldener, und purpurne und weiße Veilchen. Akelei und Wiesenschaum, Majoran und Basilienkraut, Himmelschlüsselchen und Lilien, Narzissen und Nelken sprossen und blühten da jedes zu seiner Zeit, wie die Monate es brachten, und eine Blume trat an der vorigen Statt, so dass es stets viel Schönes anzuschauen und liebliche Düfte zu atmen gab.
Der kleine Hans hatte sehr viele Freunde, aber der aufopferndste von allen war der Müller, der große dicke Hugho. ja, eine so selbstlose Zuneigung hegte der reiche Müller für den kleinen Hans, dass er nie an dessen Garten vorübergehen konnte, ohne sich über das Mäuerchen zu lehnen und einen gewaltigen Blumenstrauß oder eine Handvoll würziger Kräuter zu pflücken oder sich die Taschen mit Pflaumen und Kirschen vollzustopfen, wenn gerade die Reifezeit war.
Wahre Freunde sollten alles gemeinsam besitzen, sagte er dann stets, und der kleine Hans nickte dazu und lächelte und war sehr stolz, einen Freund mit solch hohen Gedanken zu haben.
Bisweilen fanden es die Nachbarn zwar sonderbar, dass der reiche Müller dem kleinen Hans niemals etwas als Gegengabe brachte, obwohl er hundert Säcke feinstes Mehl besaß, die in seiner Mühle aufgespeichert standen, und sechs Milchkühe und eine große Herde wollige Schafe; aber Hans zerbrach sich den Kopf über solche Dinge nicht, und er kannte kein größeres Vergnügen, als all den wunderbaren Worten zu lauschen, die der Müller unermüdlich über die Uneigennützigkeit echter Freundschaft zu sagen wusste.
Der kleine Hans arbeitete also tagaus, tagein in seinem Garten. Im Frühling, im Sommer und im Herbst war er froh und glücklich, doch wenn dann der Winter kam und er nicht Obst noch Blumen auf den Markt zu bringen hatte, litt er recht arg durch Hunger und Kälte, und oftmals musste er sich schlafen legen, ohne etwas anderes gegessen zu haben als ein paar gedörrte Birnen oder einige trockene Nüsse. Auch war er im Winter ganz mutterseelenallein, denn der Müller kam dann nie zu ihm. ,Es hätte keinen Zweck, wenn ich zu dem kleinen Hans ginge, solange noch Schnee liegt‘, pflegte er zu seiner Frau zu sagen. Wenn einer Kummer hat, soll man ihn in Ruhe lassen und ihn nicht mit Besuchen quälen. Ich jedenfalls hege diese Vorstellung von Freundschaft, und ich bin fest überzeugt, ich habe damit recht. Deshalb werde ich bis zum Frühling warten und ihn dann aufsuchen, denn erst im Frühling kann er mir einen großen Korb voll Schlüsselblumen geben, und darüber wird er sich so herzlich freuen.‘
,Du bist wahrhaftig sehr rücksichtsvoll gegen andere‘, erwiderte seine Frau, die behaglich in ihrem Lehnstuhl neben dem großen Kiefernholzfeuer saß, „sehr, sehr rücksichtsvoll. Es ist ein wahrer Genuss, dich über die Freundschaft sprechen zu hören. Ich sage dir, der Pfarrer selbst kann nicht so erbaulich reden wie du, und dabei wohnt er in einem dreistöckigen Hause und trägt einen goldenen Ring am kleinen Finger.‘
‚Aber könnten wir den kleinen Hans nicht zu uns einladen?!‘ sagte des Müllers Jüngster. ‚Wenn der arme Hans traurig ist, will ich ihm die Hälfte von meinem Haferbrei abgeben und ihm meine weißen Kaninchen zeigen!‘ ‚Dummer Junge!‘ schrie der Müller, ‚ich möchte wirklich wissen, was für einen Zweck es hat, dich in die Schule zu schicken. Mir scheint, du wirst immer dümmer statt klüger. Verstehst du nicht – wenn der kleine Hans zu uns heraufkäme und unsern warmen Kamin sähe und unser gutes Essen und unser großes Fass voll rotem Wein, da könnte er neidisch werden, und Neid ist etwas ganz Schlimmes und verdirbt jeden Charakter. Ich aber werde es keinesfalls zulassen, dass Hansens Charakter verdorben wird. Ich bin sein bester Freund, und ich werde stets über ihn wachen und Sorge tragen, dass keiner ihn in Versuchung führt. Und noch eins: wenn Hans hierher käme, würde er mich vielleicht bitten, ihm etwas Mehl auf Kredit abzulassen, und das könnte ich nicht tun. Mehl ist eines, und Freundschaft ist ein anderes, und sie dürfen nicht miteinander vermengt werden. Die beiden Wörter klingen ganz verschieden, und folglich bedeuten sie auch etwas ganz Verschiedenes. Ich dächte, das sieht jedes Kind.‘ ‚Wie gut du sprichst!‘ sagte die Müllersfrau und schenkte sich ein großes Glas Warmbier ein, ‚ich bin ganz schläfrig dabei geworden. Es ist genau, als ob man in der Kirche sitzt.‘
‚Viele, viele Leute handeln gut‘, erwiderte der Müller, ‚aber sehr wenige sprechen gut, woraus erhellt, dass Sprechen das weitaus Schwierigere von beiden ist, und das viel Vornehmere dazu.‘ Und er schoss quer über den Tisch einen strengen Blick nach seinem kleinen Jungen, der vor lauter Scham über seine Dummheit den Kopf hängen ließ und ganz puterrot anlief und in seinen Tee zu weinen begann. Na ja, er war noch so klein, dass ihr’s ihm nicht übel nehmen dürft.“
„Ist das der Schluss von der Geschichte?“ fragte der Wasserratz.
„Aber nein“, antwortete der Hänfling, „das ist der Anfang. “
„Dann sind Sie ganz und gar nicht auf der Höhe Ihrer Zeit“, sagte der Wasserratz. jeder gute Schriftsteller fängt heutzutage seine Geschichte am Ende an und geht dann auf den Anfang über und schließt mit der Mitte. Das ist die neue literarische Mode. Ich habe es kürzlich ganz genau von einem Kritiker gehört, der mit einem jungen Mann um den Teich herumwandelte. Er sprach sehr ausführlich über diese Materie, und bestimmt hatte er mit allem recht, was er sagte, denn er trug eine blaue Brille zu seinem Kahlkopf, und jedes mal wenn der junge Mann eine Bemerkung einwarf, machte er nur immer ‚Pah!‘ Aber bitte, fahren Sie in Ihrer Geschichte fort. Der Müller gefällt mir ganz ungemein. Ich habe selber schöne Gefühle aller Art, und das schafft eine tiefe Seelenverwandtschaft zwischen uns.“
„Gut“, sagte der Hänfling und hüpfte bald auf dem rechten, bald auf dem linken Bein. Als der Winter vorüber war und die Schlüsselblumen ihre blassgelben Sterne eben aufgetan hatten, sagte der Müller zu seiner Frau, er wolle nun hinübergehen und den kleinen Hans besuchen. ‚Nein, was für ein gutes Herz du hast!‘ rief die Frau, du denkst doch in einem fort an die anderen. Und vergiss nicht, den großen Korb für die Blumen mitzunehmen.‘
Also band der Müller die Flügel der Windmühle mit einer starken Eisenkette fest und ging den Hügel hinab, den Korb am Arm.
‚Guten Morgen, kleiner Hans‘, sagte der Müller.
,Guten Morgen‘, sagte Hans und lehnte sich auf seinen Spaten und lachte von einem Ohr zum andern. ,Und wie ist dir’s den ganzen Winter durch ergangen?‘ fragte der Müller.
,Oh, danke‘, rief Hans, ,du bist sehr gütig, dich danach zu erkundigen, wirklich sehr gütig. Offen gesagt, ich habe eine ziemlich böse Zeit hinter mir, aber nun ist der Frühling da, und ich bin wieder ganz vergnügt, und alle meine Blumen gedeihen.‘
,Wir haben während des Winters oft von dir gesprochen, Hans‘, sagte der Müller, ,und uns gefragt, wie dir’s gehen mag.‘
‚Das war sehr lieb von euch‘, sagte Hans, ich hatte schon ein bisschen Angst, ihr hättet mich vergessen.‘ ,Hans, ich muss mich über dich wundern‘, sagte der Müller. ,Freundschaft vergisst niemals. Das ist ja das Wundervolle an ihr; aber ich fürchte, du begreifst die Poesie des Lebens nicht. Nebenbei bemerkt – wie hübsch deine Schlüsselblumen sind!‘
,Ja, sie sind wirklich sehr hübsch‘, sagte Hans, ,und es ist ein großes Glück für mich, dass ich ihrer so viele habe. Ich will sie auf den Markt bringen und sie der Tochter des Bürgermeisters verkaufen, und mit dem Geld werde ich meinen Schubkarren auslösen.‘ ,Deinen Schubkarren auslösen? Willst du damit etwa sagen, du hast ihn verkauft? Das wäre eine schöne Dummheit von dir gewesen!‘
,Na ja‘, antwortete Hans, ,die Wahrheit zu sagen, ich konnte nicht anders. Den ganzen Winter ist’s so ärmlich bei mir zugegangen, verstehst du, dass ich nicht mal das Geld hatte, mir Brot zu kaufen. Da verkaufte ich zuerst die silbernen Knöpfe von meinem Sonntagsrock, und dann verkaufte ich meine silberne Kette, und dann verkaufte ich meine lange Tabakspfeife, und zuletzt verkaufte ich meinen Schubkarren. Aber jetzt werde ich alles wieder zurückkaufen.‘
,Hans‘, sagte der Müller, ,ich schenke dir meinen eigenen Schubkarren. Er ist nicht eben im besten Zustand; die eine Seite fehlt ganz, und auch an den Radspeichen ist verschiedenes entzwei, aber trotz alledem will ich ihn dir schenken. Ich weiß, das ist sehr edelmütig von mir, und die Leute werden mich für äußerst töricht halten, weil ich mich von dem Schubkarren trenne; aber ich bin anders als der gemeine Haufen. Meiner Meinung nach ist Edelmut das innerste Wesen der Freundschaft, und außerdem habe ich mir einen neuen Schubkarren zugelegt. jawohl, sei gutes Muts und mach dir keine Kopfschmerzen – ich schenke dir meinen Schubkarren.‘
,Ach, das ist wirklich sehr edelmütig von dir‘, sagte der kleine Hans, und sein lustiges rundes Gesicht strahlte über und über vor Freude. ,Ich kann ihn auch leicht reparieren, denn ich habe ein schönes Brett bei mir im Haus.‘ ,Ein schönes Brett!‘ sagte der Müller, ,sieh an, das ist genau das, was ich für mein Scheunendach brauche. Mein Scheunendach hat nämlich ein gewaltig großes Loch, und das Korn wird ganz feucht werden, wenn ich nicht etwas drübernagle. Welch ein Glück, dass du davon gesprochen hast! Es ist doch erstaunlich, wie eine gute Tat stets eine zweite nach sich zieht. Ich habe dir meinen Schubkarren geschenkt, und nun willst du mir dein Brett schenken. Natürlich ist mein Schubkarren viel mehr wert als dein Brett, aber wahre Freundschaft rechnet nicht. Bitte, hol es gleich, damit ich noch heute mit der Arbeit an meiner Scheune beginnen kann.‘
,Gern‘, rief der kleine Hans, und er rannte in den Schuppen und schleppte das Brett heraus. ,Es ist gerade kein sehr großes Brett‘, sagte der Müller und schaute es prüfend an, ,und ich glaube fast, wenn ich mein Scheunendach damit ausgebessert habe, wird nichts für dich übrigbleiben, um den Schubkarren zu reparieren; aber selbstverständlich ist das nicht meine Schuld. Und jetzt, da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, wirst du mir sicherlich gern ein paar Blumen als Gegengabe schenken. Hier ist der Korb, sieh nur zu, dass er bis oben voll wird.‘ ,Bis oben voll?‘ sagte der kleine Hans etwas bekümmert, denn der Korb war wirklich sehr groß, und er wusste, dass keine Blumen für den Markt übrigbleiben würden, wenn er ihn bis oben füllte; und ihm lag sehr viel daran, seine Silberknöpfe wiederzubekommen. ,Aber gewiss‘, antwortete der Müller. ,Da ich dir meinen Schubkarren geschenkt habe, halte ich es nicht für unbillig, dass ich dich um ein paar Blümchen bitte. Vielleicht irre ich mich, aber ich sollte meinen, Freundschaft, wahre Freundschaft, ist ganz frei von jeder Art Eigennutz.‘ ,Lieber Freund, bester Freund!‘ rief der kleine Hans, ,alle Blumen meines Gartens sind dein. Mir liegt jederzeit viel mehr an deiner guten Meinung als an meinen silbernen Knöpfen.‘ Und er lief und pflückte alle seine schönen Schlüsselblumen und füllte den Korb des Müllers bis oben hin.
,Auf Wiedersehen, kleiner Hans‘, sagte der Müller, als er mit dem Brett auf der Schulter und dem großen Korb in der Hand den Hügel hinanstieg.
,Auf Wiedersehen‘, sagte der kleine Hans und machte sich höchst vergnügt wieder ans Graben; er freute sich so sehr über den Schubkarren.
Am nächsten Tag band er gerade ein paar Geißblattranken über der Tür fest, als er den Müller hörte, der von der Straße her nach ihm rief. Er sprang also von der Leiter, lief hinab in den Garten und blickte über die Mauer. Da stand der Müller mit einem großen Sack Mehl auf dem Rücken.
,Lieber kleiner Hans‘, sagte der Müller, würde es dir was ausmachen, diesen Sack Mehl für mich auf den Markt zu bringen?‘
,Oh, das tut mir wirklich leid‘, sagte Hans, ,aber ich habe heute sehr viel zu tun. Ich muss all meine Schlingpflanzen aufbinden und all meine Blumen gießen und meinen ganzen Rasen walzen.‘
,In der Tat‘, sagte der Müller, ,wenn ich recht bedenke, dass ich dir meinen Schubkarren schenken will, finde ich es sehr wenig freundschaftlich von dir, mir den kleinen Gefallen zu verweigern.‘
,Ach, sprich nicht so‘, rief der kleine Hans, ,nicht um alles in der Welt möchte ich unfreundschaftlich gegen dich sein.‘ Und er lief nach seiner Mütze und keuchte mit dem großen Sack auf den Schultern davon.
Es war ein sehr heißer Tag, und die Landstraße war entsetzlich staubig, und ehe Hans den sechsten Meilenstein erreicht hatte, fühlte er sich so matt, dass er sich niedersetzen und ausruhen musste. Aber gleich ging er tapfer weiter und gelangte endlich zum Markt. Nachdem er dort eine Weile gewartet hatte, verkaufte er den Sack Mehl zu einem sehr günstigen Preis und kehrte dann unverzüglich heim; denn er fürchtete unterwegs den Räubern in die Hände zu fallen, wenn er sich länger aufhielte.
,Das war mal ein schwerer Tag heut‘, sagte der kleine Hans zu sich selber, als er ins Bett ging, ,aber ich freue mich doch, dass ich’s dem Müller nicht abgeschlagen habe. Er ist ja mein bester Freund, und überdies will er mir seinen Schubkarren schenken.‘
Früh am nächsten Morgen kam der Müller herüber, das Geld für den Sack Mehl zu holen; der kleine Hans jedoch war so müde, dass er noch im Bett lag.
,So wahr ich hier stehe‘, sagte der Müller, ,du bist sehr faul. Ich dächte, da ich dir doch meinen Schubkarren schenken will, solltest du fürwahr fleißiger arbeiten. Müßiggang ist aller Laster Anfang, und ich sehe sehr ungern, wenn einer meiner Freunde träge oder saumselig ist. Du darfst mir’s nicht übel nehmen, dass ich so unumwunden mit dir rede. Wäre ich nicht dein Freund, so würde mir das natürlich nicht im Traume einfallen. Welchen Nutzen aber hätte die Freundschaft, wenn man unter Freunden nicht aufrichtig seine Meinung sagte? Komplimente machen, Wohlgefallen zu erregen trachten und schmeicheln, das kann ein jeder; doch der wahre Freund spricht immer Unangenehmes und trägt kein Bedenken, auch wehzutun. ja, dem wahren Freund von echtem Schrot und Korn ist dies sogar das liebste, denn er weiß, dass Wehtun Wohltun ist.‘ ,Verzeih, ich wollte dich nicht erzürnen‘, sagte der kleine Hans, während er sich den Schlaf aus den Augen rieb und seine Nachtmütze abnahm, aber weil ich gar so müde war, dachte ich mir, ich könnte eigentlich noch ein bisschen liegen bleiben und den Vögeln zuhören. Weißt du, die Arbeit geht mir stets besser von der Hand, wenn ich vorher die Vögel habe singen hören.‘
,So? das freut mich‘, sagte der Müller und klopfte dem kleinen Hans auf den Rücken, ,denn ich möchte, dass du zur Mühle hinaufkommst, sobald du dich angezogen hast, und mir mein Scheunendach ausbesserst.‘
Der arme kleine Hans brannte zwar darauf, in seinem Garten zu arbeiten, denn er hatte die Blumen seit zwei Tagen nicht mehr gegossen; aber er wollte dem Müller die Bitte nicht abschlagen, da dieser doch ein so guter Freund von ihm war.
,Würdest du’s für sehr unfreundschaftlich von mir halten, wenn ich sagte, ich hätte viel zu tun?‘ fragte er ganz behutsam und schüchtern.
,Allerdings‘, antwortete der Müller, ,ich glaube, es ist nicht zu 00viel von dir verlangt, da ich dir ja meinen Schubkarren schenken will; aber wenn du nicht magst, werde ich selbstverständlich alles selber machen.‘ ,Oh, auf keinen Fall!‘ rief der kleine Hans; und er sprang aus dem Bett und zog sich an und ging hinaus zu der Scheune.
Dort werkte er den ganzen Tag bis zum Sonnenuntergang, und bei Sonnenuntergang kam der Müller, um zu sehen, wie es mit der Arbeit vorwärts ging. ,Hast du das Loch im Dach schon repariert, kleiner Hans?‘ rief der Müller fröhlichen Tones. ,Es ist fertig ausgebessert‘, antwortete der kleine Hans und stieg die Leiter hinab.
,Ah!‘ sagte der Müller, nichts gewährt uns größere Befriedigung als die Arbeit, die wir für andere verrichten.‘ ,Es ist wirklich ein großer Vorzug, dich reden zu hören‘, erwiderte der kleine Hans und setzte sich nieder und wischte den Schweiß von der Stirn, ,ein sehr großer Vorzug sogar. Ich fürchte freilich, mir werden niemals so schöne Gedanken kommen wie dir.‘ ,Oh! das wird schon werden‘, sagte der Müller, du musst dir nur mehr Mühe geben. Vorläufig übst du die Freundschaft nur praktisch aus; eines Tages aber wirst du auch ihre Theorie begreifen.‘
,Meinst du wirklich?‘ fragte der kleine Hans.
,Unbedingt‘, antwortete der Müller. ,Doch nun, da du das Dach ausgebessert hast, solltest du lieber nach Hause gehen und dich ausruhen, denn ich möchte, dass du morgen meine Schafe auf den Berg treibst.‘
Der arme kleine Hans hatte Angst, irgend etwas dagegen zu sagen, und am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe brachte der Müller seine Schafe hinüber zu Hansens Häuschen, und der ging mit ihnen auf den Berg. Er brauchte den ganzen Tag, um hinauf und wieder hinunter zu gelangen; und als er heimkehrte, war er so müde, dass er in seinen Stuhl sank und schlief, und er wachte nicht auf, bis es helllichter Tag geworden war.
,Wie herrlich werde ich heut in meinem Garten arbeiten‘ sagte er und machte sich unverweilt ans Werk.
Aber mal aus diesem Grunde, mal aus jenem – nie hatte er Zeit, sich um seine Blumen zu kümmern; denn immerzu kam sein Freund, der Müller, herüber und schickte ihn fort mit langwierigen Aufträgen oder holte ihn, damit er in der Mühle half. Der kleine Hans war mitunter ganz niedergeschlagen, weil er fürchtete, seine Blumen könnten glauben, er habe sie vergessen. Aber dann tröstete er sich wieder mit dem Gedanken, dass der Müller doch sein bester Freund war. ,Zudem‘, sagte er sich stets, ,will er mir seinen Schubkarren schenken, und das ist ein Akt reinen Edelmuts.‘
So arbeitete der kleine Hans weiter für den Müller, und der Müller sagte allerhand Schönes über die Freundschaft, was Hans wortwörtlich in ein Notizbuch eintrug und nachts immer wieder durchlas, denn er war ein sehr gewissenhafter Schüler.
Eines Abends nun saß der kleine Hans noch spät an seinem Kamin, als es laut an der Tür klopfte. Die Nacht war dunkel und schaurig, und der Wind fuhr mit so wildem Getöse ums Haus, dass Hans zunächst dachte, es sei nur der Sturm. Aber ein zweites Klopfen folgte, und dann ein drittes, lauter als jedes zuvor.
,Das ist ein armer Wandersmann‘, sagte der kleine Hans bei sich und lief an die Tür.
Da stand der Müller mit einer Laterne in der einen Hand und einem großen Stecken in der anderen. ,Lieber, kleiner Hans‘, rief der Müller, ,ich bin in großer Bedrängnis. Mein kleiner Junge ist von der Leiter gestürzt und hat sich verletzt, und ich muss den Doktor holen. Aber der wohnt so weit weg, und die Nacht ist so schlimm, dass mir eben eingefallen ist, es wäre doch viel besser, wenn du statt meiner hingingest. Du weißt, ich will dir meinen Schubkarren schenken, und da ist es doch nur in der Ordnung, wenn du mir auch einmal einen Gegendienst leistest.‘
,Gewiss‘, rief der kleine Hans, ,ich betrachte es als eine große Ehre, dass du zu mir gekommen bist, und will sofort aufbrechen. Aber leih mir bitte deine Laterne, denn bei der Finsternis heute Abend könnte ich sonst den Weg verfehlen und in den Graben fallen.‘
,Leider‘, erwiderte der Müller, ,leider ist das meine neue Laterne, und wenn ihr etwas zustieße, wäre das ein sehr empfindlicher Schaden für mich.‘ ,Gut, macht nichts, es geht auch so‘, rief der kleine Hans, und er nahm seinen großen Pelzrock vom Nagel und seine warme rote Tuchkappe und band sich einen Schal um den Hals und machte sich auf den Weg.
Was tobte da für ein fürchterlicher Sturm! Die Nacht war so schwarz, dass der kleine Hans kaum sehen konnte, und der Wind wehte so heftig, dass er sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt. Er ertrug aber alles sehr tapfer, und nach drei Stunden Weges kam er zum Doktorhaus und pochte an die Tür.
,Wer ist da?‘ rief der Arzt und steckte den Kopf zum Schlafzimmerfenster heraus. ,Der kleine Hans, Doktor.‘ ,Was willst du denn, kleiner Hans?‘ ,Der Junge vom Müller ist die Leiter runtergefallen und hat sich was getan, und der Müller lässt sagen, Sie möchten doch gleich hinkommen.‘
,Gut!‘ sagte der Doktor; und er rief nach seinem Pferd und seinen großen Stiefeln und seiner Laterne und kam die Treppe herab und ritt davon nach des Müllers Hause, der kleine Hans aber stapfte hinter ihm drein.
Doch der Sturm wurde schlimmer und schlimmer, und es regnete in Strömen, und der kleine Hans konnte nicht sehen, wohin er lief, und nicht mit dem Pferd gleichen Schritt halten. Zum Schluss kam er vom Wege ab und verirrte sich ins Moor, wo es sehr gefährlich war, denn das Moor war voll tiefer Wasserlöcher; und in einem davon ertrank der arme kleine Hans. Sein Leichnam wurde, in einem großen Tümpel treibend, am nächsten Tage von ein paar Ziegenhirten aufgefunden und nach seinem Häuschen gebracht.
Die ganze Gegend ging mit bei seinem Begräbnis, denn alle hatten den kleinen Hans gekannt und gerne gehabt, und der Müller war der Hauptleidtragende. ,Da ich sein bester Freund gewesen bin‘, sagte der Müller, ,ist es nur recht und billig, dass ich den besten Platz einnehme.‘ Und so schritt er im langen schwarzen Rock an der Spitze des Trauerzuges, und dann und wann wischte er sich mit einem großen Taschentuch die Augen.
,Jedem von uns wird der kleine Hans bestimmt sehr fehlen‘, sagte der Schmied, als das Begräbnis vorüber war und alle bei Glühwein und süßen Kuchen gemütlich im Wirtshaus beisammen saßen.
,Mir jedenfalls wird er wirklich fehlen‘, erwiderte der Müller. jawohl, ich hatte ihm meinen Schubkarren schon so gut wie geschenkt, und nun weiß ich beim besten Willen nicht, was ich damit anfangen soll. Er steht mir zu Hause immerzu im Wege, und er ist in so schlechtem Zustand, dass ich nichts dafür bekäme, wenn ich ihn verkaufte. Ich will mich fortan hüten, je wieder irgend etwas zu verschenken. Man hat bloß den Schaden für seinen Edelmut.‘ „Nun, und weiter?“ sagte der Wasserratz nach einer langen Pause.
„Nun, das ist der Schluss“, sagte der Hänfling. „Aber was wurde aus dem Müller?“ fragte der Wasserratz. „Oh, das weiß ich wahrhaftig nicht“, antwortete der Hänfling, „und es ist mir auch ganz einerlei.“
„Daraus ersieht man deutlich, Sie sind keiner Anteilnahme fähig“, sagte der Wasserratz.
„Ich fürchte, Sie begreifen die Moral der Geschichte nicht ganz“, bemerkte der Hänfling.
„Die was?“ kreischte der Wasserratz.
„Die Moral.“
„Wollen Sie damit sagen, dass die Geschichte eine Moral hat?“
„Gewiss“, sagte der Hänfling.
„Zum Kuckuck“, sagte der Wasserratz höchst erbost, „ich dächte, Sie hätten mir das sagen können, bevor Sie anfingen. Dann hätte ich Ihnen nämlich ganz bestimmt nicht zugehört; im Gegenteil, ich hätte ‚Pah!‘ gesagt wie der Kritiker neulich. Immerhin kann ich’s ja jetzt nachholen.“ Und er brüllte aus vollem Halse: „Pah!“, schwenkte den Schwanz und kroch in sein Loch zurück.
„Und wie gefällt Ihnen der Wasserratz?“ fragte die Ente, die ein paar Minuten danach angerudert kam. „Er hat eine Menge hervorragende Eigenschaften, ich für meine Person aber hege die Gefühle einer Gattin und Mutter, und ich kann einen eingefleischten Junggesellen nicht ansehen, ohne dass mir die Tränen kommen.“
„Mir scheint, er hat sich über mich geärgert“, meinte der Hänfling, „und zwar, weil ich ihm eine Geschichte mit einer Moral erzählt habe.“
„Ah! Das ist immer ein sehr gefährliches Unterfangen“ sagte die Ente.
Und ich gebe ihr vollkommen recht.

Quelle: (Oscar Wilde)

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Der Königssohn und der Tod

Ein mächtiger König saß in seinem Reiche; er hatte Güter aller Art und erlesene Berater, weltliche Ehre und unermeßlichen Reichtum an Gold und Edelsteinen, und seinen Stolz setzte er darein, in seiner Halle Männer zu haben, die man Philosophen nennt, das heißt hochgelehrte Weise.

Nun geschah es, daß ihm die Königin einen Sohn gebar, und der wuchs heran, wie es einem Königskinde geziemt, hold und freundlich, beständig und trefflich, männlichen Sinnes ohne Falsch und Hehl. Und als er so alt war, daß an seine Unterweisung gedacht werden mußte, stand eines Tages, als der König an seiner Tafel saß, der weiseste Meister auf, der in der Halle war, trat vor den Hochsitz und sagte: „Herr, wir glauben, Euer Sohn ist von Gott gegeben, auf daß er dereinst auf Eurem Throne sitze, und darum erbiete ich mich, ihn in jeglicher Wissenschaft zu unterweisen.“ Der König aber sagte mit gar zorniger Miene: „Was könntest du meinen Sohn lehren? Dein Wissen ist mehr wert als die Possen fahrender Leute und das Spiel der Kinder. Und mein Sohn soll nicht zu deinen Füßen sitzen, sondern er soll ohne Unterricht bleiben, oder er soll den Meister erhalten, der ihn unbekannte Weisheit lehren kann, von der ihr nie etwas gehört habt.“

Nach einigen Tagen, als der König wieder bei Tische saß, wurde leise an die Tür gepocht, und als die Wächter nachsahen, stand draußen ein Mann mit dem Gehaben eines Weisen, und der verlangte, vor den König geführt zu werden. Der König erlaubte es, und der Mann kam herein; er trug einen großen Filzhut, so daß man sein Gesicht nicht genau sehen konnte, rückte auch zum Gruße nur wenig an der Krempe und sagte: „Heil Euch, Herr!“ Und er fuhr fort: „Ihr seht, Herr, daß ich ein Weiser bin, und da mir ein Wort von Euch wegen des Unterrichts Eures Sohnes zu Ohren gekommen ist, das Euren Räten etwas hochfahrend erschien, so bin ich gekommen, um ihm mit meinem Wissen zu dienen; denn was ich ihn lehren kann, wird, hoffe ich, keinem lebenden Menschen bekannt sein. Da ich aber alt und schrullig bin, so mag ich nicht dem Lärm der Welt ausgesetzt sein, und darum laßt für uns in dem Walde zwei Meilen vor der Stadt ein Haus errichten und Unterhalt für ein ganzes Jahr hinschaffen; denn ich will, daß uns dort niemand störe.“

Dieser Rede war der König froh, und er ließ schleunigst alles so herrichten. Und als der Meister und der Königssohn das Haus bezogen hatten, da setzte sich der Meister, wie es ihm zukam, auf den Hochsitz, und der Königssohn setzte sich ihm zu Füßen, so demütig, wie ein Kind geringen Standes. Und so saßen sie am ersten Tag und schwiegen, und den zweiten und den dritten, und kein Wort wurde laut. Um es kurz zu machen, das ganze Jahr diente der Königssohn früh bis spät dem Meister und saß schweigend zu seinen Füßen. Und als das Jahr zu Ende war, sagte der Meister: „Morgen, mein Sohn, wird man uns holen und vor den König führen. Er wird dich um den Unterricht fragen, und du magst ihm antworten, du dürftest von deiner Belehrung nichts sagen, du wissest aber, daß dergleichen noch nie ein menschliches Ohr vernommen habe. Und dein Vater wird fragen, ob du noch weiter bei mir bleiben willst, ich gebe dir keinen Rat.“ Und so geschah es, wie der Meister gesagt hatte, und der Königssohn sagte, er gehe gern in das Haus am Walde zurück.

Das zweite Jahr verlief wie das erste, und wieder entschloß sich der Königssohn, in der Einsamkeit zu verharren, und das dritte Jahr verging in demselben Schweigen. Als aber auch dieses Jahr zu Ende war, sagte der Meister: „Mein Sohn, nun sollst du den Lohn für dein Schweigen, deine Geduld und deine Treue erhalten; denn du bist der Lehre würdig, die noch keinem Wesen zuteil geworden ist. Wisse, ich bin kein Mensch, sondern ich bin der Tod, und die Weisheit, die ich dir geben will, soll dich berühmt machen durch alle Lande, und nun gib wohl acht: Wenn ein Mensch in der Stadt krank wird, so gehe zu ihm, und du wirst mich bei ihm sitzen sehen, und du mußt beachten, wo ich sitze. Sitze ich bei seinen Füßen, so sollst du, wie es auch eintreffen wird, sagen, daß er lange, aber nicht sehr schwer krank sei und davonkommen wird; sitze ich ihm zur Seite, so wird die Krankheit schwerer, aber kürzer sein und ihr Genesung folgen; sitze ich aber zu seinen Häupten, so ist der Tod gewiß, mag die Qual länger oder kürzer währen. Und erkranken deine Freunde oder angesehene Leute, die du erfreuen oder deren Freundschaft du erwerben willst, oder willst du Geld oder Ehre von ihnen erlangen, so nimm den Vogel Karadius: sitze ich nicht am Kopfende des Kranken, so halte ihm den Vogel ins Gesicht, denn der Vogel hat die Eigentümlichkeit, die Krankheit aufzusaugen und aufzunehmen, und dann laß ihn los, und er fliegt mit der Krankheit hoch in die Luft und nahe zur Sonne und bläst die Krankheit in sie hinein, und sie nimmt sie auf und zerstört sie in ihrer Hitze. Und damit ist meine Lehre zu Ende und unser erstes Zusammensein; wir werden uns zwar wiedertreffen, aber das Widersehen wird dir keine Freude bringen.“ Damit schloß der Tod seine Rede.

Und es kam der Tag, wo sie beide vor den König gerufen wurden, und der Königssohn stellte dem Meister ein Zeugnis des Lobes aus, und der Meister erntete von dem König reichen Dank und das Angebot von Gaben und Ehrenbezeigungungen; er aber schlug alles aus und bat nur um Urlaub. Die Weisheit des Königssohnes wurde zunächst nicht gar hoch angeschlagen, aber mit der Zeit gewann er Ansehen, und das wuchs immer mehr, und schließlich war es das allgemeine Urteil, seinesgleichen sei noch nie geboren gewesen. Und bald waren gleichsam alle Länder in Bewegung ihn aufzusuchen, und er macht weite Reisen zu vornehmen Leuten, um ihre Krankheiten zu untersuchen. Und dann starb sein Vater, und als er den Thron bestiegen hatte, besuchte er nur noch die seine Freunde und die Mächtigen des Landes. Aber trotz seiner Gabe war er nicht hochmütig, sondern blieb herablassend und sanft und mild, so daß ihm jedes Kind von Herzen hold war. So vergingen seine Tage in Ruhm und Glück, und als er hundert erreicht hatte, war er noch ein rüstiger Mann.

Da kam eine heftige Krankheit über ihn, die wenig Aussicht zur Rettung ließ, und als er da einmal aus einer Ohnmacht erwachte, sah er, daß sein alter Meister mit dem breiten Filzhut gekommen war, und der saß dicht bei seinem Haupte. Und er sagte zu ihm: „Meister, warum bist du so bald gekommen!“ Und er Tod antwortete: „Einmal muß es sein.“ Und der König sagte: „Damals als ich, ein Königskind, drei Jahre lang schweigend zu deinen Füßen saß, hätte ich nicht gedacht, daß du mich wegreißen werdest aus der Fülle des Glücks und der königlichen Ehren und obwohl ich noch rüstig bin und zur Regierung wohl tauglich.“ Der Tod aber sagte, der König müsse durchaus mit ihm gehen; da sagte dieser: „So viel Frist wirst du mir aber doch gewähren, daß ich noch ein Vaterunser sprechen kann“, und der Tod gewährte die Frist eines Vaterunser. Und der König sprach die ersten vier Bitten des Vaterunsers; als er aber zu der Stelle gekommen war: „Vergib uns unsere Schuld“, schwieg er still. Der Meister wartete lange, aber er blieb stumm. Endlich sagte der Meister: „Warum, mein Sohn, betest du nicht weiter?“ Und der König antwortete: „Ich will nicht. Du hast mir gewährt, daß ich noch ein Vaterunser sprechen darf, und den Schluß werde ich nicht ehr beten, als bis ich gelebt habe, solange es mein Herz begehrt, und dann werde ich das Gebet freiwillig beenden.“

Und er Tod sagte: „Es ist deiner List gelungen, mich zu betrügen, und so wiest du für diesmal deinen Willen behaupten.“ Und er schied, und mit dem Könige wurde es so rasch besser, daß es allen ein Wunder schien, wie die Krankheit wich. Und er lebte in seinen Ehren ein zweites Jahrhundert; dann aber hatte ihn das Alter so gebeugt und gelähmt, daß ihm das Leben zur Last ward. Er berief alle Großen seines Landes, und sie kamen allesamt, und der Königsstuhl wurde aufgestellt, und seine Mannen führten ihn hin. Und er traf Bestimmungen über das Reich und die Königswürde und erteilte seinem Volke guten Rat und väterliche Ermahnung, Gott zu fürchten und die Rechte des Landes nach den alten Satzungen guter Fürsten zu gewahren.

Dann legt er sich bei hellem Tage zu Bett und gebot den Geistlichen, ihn auf die letzte Stunde vorzubereiten. Und das geschah, und dann erzählte er seinen Vertrauten alles, was sich zwischen ihm und dem Tod zugetragen hatte, und endlich sagte er: „Nun komm, Meister, und höre, wie ich mein Gebet beende; ich bin bereit.“ Und der Meister kam, und der König begann: „Vergib uns unsere Schuld“, und in dem Augenblicke, wo er das Amen sprach, schied er aus seinem Leben.
Und er wurde, obgleich er alt war, sehr beweint, und damit hat diese Geschichte ein Ende.

Märchen aus Schottland

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Magdalenchen und Kati

Es war einmal ein König, dessen Frau war gestorben, und sie hatte ihm eine einzige Tochter hinterlassen, die er zärtlich liebte. Die kleine Prinzessin hieß Magdalenchen, und sie war so gut und so mild und herzig, daß sie alle Untertanen gern mochten. Aber da der König meist mit Staatsgeschäften zu tun hatte, führte das Mädel ein recht einsames Leben und wünschte sich oft, es hätte ein Schwesterchen, mit dem es spielen und das ihm Gesellschaft leisten könnte. Da der König das vernahm, entschloß er sich, eine Gräfin von mittleren Jahren zu heiraten, die er an einem benachbarten Fürstenhofe getroffen hatte. Sie hatte nämlich eine Tochter Kati, die grad ein wenig jünger als Magdalenchen war. Er glaubte, das gäbe eine Spielgesellin für seine Tochter.

So geschah nun alles, und in jeder Hinsicht lief der Plan auch recht gut aus; denn die beiden Mädchen liebten sich innig und pflegten alles miteinander zu teilen, als ob sie wirklich Schwestern wären. Aber nach der anderen Seite schlug es sehr bös aus, denn die neue Königin war eine grausame und ehrgeizige Frau, und sie wollte, ihre eigene Tochter sollte es einmal ebenso haben wie sie, eine prunkvolle Hochzeit feiern und vielleicht ebenfalls Königin werden. Als sie aber sah, daß Magdalenchen zu einem sehr schönen jungen Mädchen heranwuchs – bei weitem schöner als ihre eigene Tochter -, da stieg in ihr Haß auf, und sie wünschte, jene verlöre auf irgendeine Weise ihre Schönheit. Denn, so dachte sie bei sich, welcher Freier wird sich um meine Tochter kümmern, solange ihr die Stiefschwester zur Seite steht?

Nun war aber unter den Dienern und Gefolgsleuten in ihres Mannes Schloß ein altes Hühnerweib, von dem die Leute glaubten, es sei mit den bösen Luftgeistern im Bunde und es sei geschult in der Bereitung von Zaubermitteln, Säften und Liebestränken. Vielleicht kann es mir bei meinen Absichten behilflich sein, sagte sich die böse Königin; und eines Nachts, als es schon schummrig wurde, hüllte sie sich in einen weiten Mantel und machte sich auf den Weg zur Hütte des alten Hühnerweibes. „Schick mir die Dirne morgen früh, bevor sie gefrühstückt hat“, erwiderte die Alte, als sie erfuhr, was ihre Besucherin von ihr wollte. „Ich will schon ein Mittel finden, ihrer Schönheit eins auszuwischen!“ Und die böse Königin ging befriedigt wieder heim.

Am nächsten Morgen in der Frühe ging sie ins Zimmer der Prinzessin, die gerade beim Anziehen war, und gab ihr den Auftrag, noch vor dem Frühstück loszugehen und die Eier zu holen, welche die Hühnerfrau gesammelt. „Und sieh zu“, so mahnte sie nochmals, „daß du vor dem Weggehen keinen Bissen issest, denn nichts malt die Wangen eines jungen Mädchens rosiger, als wenn es einen Fastengang in die frische Morgenluft hinaus unternimmt.“ Prinzessin Magdalenchen versprach, alles getreulich zu befolgen und die Eier zu holen, wie ihr geheißen war. Aber da sie nie gern aus der Tür ging ohne einen Happen zu essen, und da sie außerdem befürchtete, ihre Stiefmutter könnte einen arglistigen Grund für den ungewöhnlichen Rat haben – schlüpfte sie erst noch in die Speisekammer treppabwärts und versah sich mit einem großen Stück Kuchen.

Als sie es aufgegessen hatt, machte sie sich auf den Weg zur Hütte der alten Hühnerfrau und fragte nach den Eiern. „Hebt einmal den Deckel von jenem Topf dort auf, Eure Hoheit, und Ihr werdet sie dann sehen“, sagte die alte Frau und wies auf einen breitbauchigen Topf in der Ecke, in dem sie sonst ihr Hühnerfleisch kochte. Die Prinzessin tat es und fand einen Haufen Eier darin liegen, die sie in ihren Korb tat, während die alte Frau sie mit seltsamem Lächeln beobachtete. „Geh heim zu deiner Frau Mutter, mein Honigkind“, sagte sie schließlich, „und bestelle ihr von mir, sie solle die Schranktür besser verwahren.“

Die Prinzessin ging heim und richtete ihrer Stiefmutter die sonderbare Botschaft aus; sie war selbst neugierig, was das wohl bedeuten mochte. Aber wenn sie die Worte der Hühnerfrau nicht verstand, die Königin verstand sie nur zu gut. Denn sie entnahm daraus, daß die Prinzessin den Zauber der alten Hexe umgangen hatte. So schickte sie am nächsten Morgen ihre Stieftochter noch einmal mit dem gleichen Auftrag fort, begleitete sie aber persönlich bis zum Schlosstor, so daß das arme Mädchen keine Gelegenheit mehr fand für einen Besuch in der Speisekammer.

Aber als sie auf der Landstraße, die zur Hütte führte, dahinging, spürte sie solchen Hunger, daß sie beim Vorübergehen ein paar Landleute, die am Wegrande Erbsen pflückten, um eine Handvoll bat. Das taten sie auch, und sie aß die Erbsen, daß schließlich dasselbe geschah wie gestern. Die Hühnerfrau ließ sie nach den Eiern schauen; aber sie vermochte mit ihrem Zauber nichts auszurichten, weil sie ihr Fasten gebrochen hatte. So ließ die alte Frau sie wieder heimgehen und gab der Königin die gleiche Botschaft mit.

Als die Königin das vernahm, wurde sie sehr ärgerlich, denn sie fühlte, daß das Mädchen sie durch diese Unfolgsamkeiten überlistete. Sie beschloß also, obwohl sie kein Freund des Frühaufstehens war, sie am nächsten Morgen persönlich zu begleiten, um sich zu vergewissern, daß sie unterwegs nichts zu essen bekam. So lief sie am nächsten Morgen mit der Prinzessin zur Hütte des Hühnerweibes, und wie zweimal zuvor schickte die Alte die Königstochter an den Topf in der Ecke, damit sie den Deckel abnähme und die Eier herausholte.

In demselben Augenblick aber, als das die Prinzessin befolgte, sprang ihr das liebliche Haupt vom Halse, und ein grober Schafskopf setzte sich an dessen Stelle. Dann dankte die böse Königin der grausamen alten Hexe für den Dienst, den sie geleistet hatte, und ging nach Haus, hoch erfreut über das glückliche Gelingen ihres Anschlages. Indes hob die arme
Prinzessin ihr eigen Haupt vom Boden auf und legte es mit den Eiern zusammen in ihren Korb und ging weinend heim. Sie verbarg sich unterwegs überall hinter den Hecken, so sehr schämte sie sich über ihren Schafskopf, und war ängstlich darum besorgt, daß sie nur ja niemand sah. Nun erzählte ich schon, wie sehr die Stiefschwester der Prinzessin, Kati, sie liebte, und als sie sah, was für eine grausame Tat gegen sie verübt worden war, war sie so erregt, daß sie erklärte, sie würde keine Stunde mehr in dem Schlosse bleiben.

Sie sagte: „Wenn meine hohe Mutter eine solche Tat vollführen lassen kann, was sollte sie daran hindern, eine andere folgen zu lassen. Daher dünkt mich, es ist es besser für uns beide, dahin zu gehen, wo sie uns nicht erreichen kann.“ So wickelte sie ein schönes Tuch ihrer armen Stiefschwester um den Kopf, daß niemand mehr erkennen konnte, wie er aussah, legte den rechten Kopf in den Korb, nahm sie bei der Hand, und so machten sich beide auf, ihr Glück zu versuchen.

Sie wanderten und wanderten, bis sie einen strahlenden Palast erreichten, und als sie herangekommen waren, wollte Kati gleich beherzt hinaufgehen und an das Tor pochen. „Vielleicht finde ich hier Arbeit“, erklärte sie, „und verdiene Geld genug, um uns beide sorgenfrei zu stellen.“ Am liebsten hätte die arme Prinzessin sie zurückgehalten. „Sie werden nichts von dir wissen wollen“, flüsterte sie, „wenn sie sehen, du hast eine Stiefschwester mit einem Schafskopf.“ „Und wer sollte das erfahren, daß du einen Schafskopf hast?“ fragte Katharina. „Nur mußt du deinen Mund halten und dir das Tuch dicht um den Kopf wickeln, das übrige kannst du mir überlassen!“ So stieg sie hinauf und pochte an die Küchentür, und als die Hausmeisterin kam, um nachzusehen, fragte sie, ob sie nicht irgendeine Arbeit für sie hätte.

„Denn ich habe“, so sagte sie, „eine kranke Schwester, die arg von Kopfschmerzen geplagt wird, und ich würde gern ein ruhiges Unterkommen für sie finden, wo sie zur Nacht bleiben kann.“ „Verstehst du etwas von Krankheiten?“ fragte die Hausmeisterin, die recht betroffen war über Katis sanfte Stimme und edle Art. „Gewiß“, erwiderte Kati, „denn wenn man eine Schwester hat, die von Kopfschmerzen geplagt wird, dann lernt man leise auftreten und jeden Lärm vermeiden.“

Nun wollte es der Zufall, daß des Königs ältester Sohn, der Kronprinz, im Palast an einer seltsamen Krankheit daniederlag, die sein Gehirn in Mitleidenschaft gezogen zu haben schien. Denn er war so aufgeregt, besonders des Nachts, daß immer jemand bei ihm Wache halten mußte, damit er sich kein Leid antat. Und dieser Zustand hatte schon so lange angehalten, daß jedermann ganz erschöpft war. Und die alte Hausmeisterin dachte, das wäre eine gute Gelegenheit, wieder zu ruhigem Nachtschlaf zu kommen, wenn man diese Fremde mit der Wache beim Prinzen betrauen könne. Sie ließ sie also an der Tür stehen und ging zum König, um sich Rat zu holen. Und der König kam heraus und sprach mit Kati.

Auch er freute sich über ihre Stimme und ihr Auftreten und gab deshalb die Anweisung, es sollte für sie und ihre kranke Schwester im Schlosse ein abgelegenes Zimmer hergerichtet werden. Dazu versprach er ihr für den nächsten Morgen als Belohnung einen Beutel voll Silbertaler, wenn sie in der Nacht beim Prinzen Wache halten und ihn vor allem Harm schützen wolle. Katharina willigte gern in den Handel ein. Denn, dachte sie, wenigstens ist’s ein Unterkommen zur Nacht für die Prinzessin; und außerdem, einen Beutel voll Silbergeld bekommt man nicht alle Tage. So ging die Prinzessin schlafen in dem schmucken Zimmer, das für sie hergerichtet war, und Katharina bereitete sich zur Nachtwache bei dem kranken Prinzen.

Es war ein hübscher, stattlicher Jüngling, der in einer Art Fieber zu liegen schien. Denn sein Geist war nicht ganz klar, und er warf und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Dabei starrte er ängstlich vor sich hin und streckte die Hände aus, als ob er etwas greifen wolle. Und um zwölf Uhr mitternachts, gerade als Katharina glaubte, er würde nun in den erfrischenden Schlaf verfallen, erhob er sich zu ihrem größten Schrecken aus dem Bett, kleidete sich eilends an, öffnete die Tür und schlüpfte die Treppe hinunter, als ob er nach jemand Ausschau halten wolle. „Das muß etwas Seltsames sein“, sagte sich das Mädchen. „Mir scheint, ich tue gut daran, ihm zu folgen, um zu sehen, was geschieht.“

So stahl sie sich aus dem Zimmer, und heimlich folgte sie dem Prinzen unbehelligt treppabwärts. Wie groß war aber ihr Erstaunen, als sie entdeckte, daß er augenscheinlich einen weiteren Weg vorhatte. Denn er griff zu Hut und Reitrock, schloß die Tür auf, wandte sich über den Hof zum Stalle und begann, sein Pferd zu satteln. Als er damit fertig war, führte er es heraus, stieg auf, pfiff leise nach dem Hunde, der in der Ecke schlief, und machte sich auf, davonzureiten. „Ich muß auch mitgehen und das Weitere beobachten“, sagte Katharina mutigen Herzens, „denn es scheint mir, er ist verhext. Ein Kranker vermag das nicht.“

Also, da das Pferd gerade lostraben wollte, schwang sie sich leicht auf seinen Rücken und richtete sich ganz behaglich hinter dem Reiter ein, der sie gar nicht bemerkt hatte. Dann ritt das seltsame Paar fort durch die Wälder, und unterwegs pflückte Katharina die Haselnüsse, die in dichten Stauden ihr Gesicht streiften. Denn, sagte sie sich, weiß der Himmel, wo ich wieder etwas zu essen bekomme. Weiter und weiter ritten sie, bis sie den grünen Wald hinter sich ließen und an ein offenes Moorgelände kamen. Alsbald erreichten sie einen Hügel, und dort zog der Prinz die Zügel an, sprang herab und rief in einem seltsamen, unheimlichen Flüsterton:

„Grüner Hügel, tu dich auf, tu dich auf und laß uns ein, den Prinzen, Pferd und Hund.“ „Und“, flüsterte Katharina schnell hinterher, „laß auch seine Frau hinter ihm ein.“ Zu ihrer großen Verwunderung schien sich der Gipfel des Erdhügels im Nu aufzukippen, und es blieb für die kleine Gesellschaft eine genügend große Öffnung zum Eintreten. Dann schloß er sich wieder allmählich hinter ihnen.

Sie befanden sich in einer prächtigen weiten Halle, und Hunderte von strahlenden Kerzen steckten in Leuchtern an den Wänden. In der Mitte des Gemaches stand eine Gruppe der schönsten Mädchen, die Katja jemals in ihrem Leben gesehen hatte. Alle waren in schimmernde Ballgewänder gekleidet und trugen Kränze aus Rosen und Veilchen im Haar. Auch waren da muntere Herren, die mit diesen schönen Mädchen zum Takt einer feenhaften Musik getanzt hatten. Als die Mädchen den Prinzen sahen, rannten sie ihm entgegen und führten ihn mitten in ihre Lustbarkeiten. Und an ihren Händen schien sogleich seine Schwermut zu schwinden, er wurde der heiterste in der ganzen Schar und lachte und tanzte und sang, als ob er nie gewußt, was Krankheit heißt.

Da sich niemand um Katharina kümmerte, setze sie sich ruhig auf einen Felsenvorsprung und wartete, was geschähe. Und als sie so wartete, gewahrte sie ein ganz kleines Kindchen, das dicht vor ihren Füßen mit einer zierlichen Rute spielte. Es war ein herziges, kleines Kind, und gerad dachte sie daran, mit ihm sich anzufreunden, da kam eins von den schönen Mädchen vorüber, und als es die Rute sah, sagte es behutsam zu seinem Gefährten: „Drei Streiche mit jener Rute geben jedem ein hübsches Gesicht.“ Das war aber eine Botschaft! Katharina atmete schwer und hastig, mit zitternden Fingern holte sie ein paar Nüsse aus ihrer Tasche und rollte sie unabsichtlich dem Kinde zu.

Das schien nicht oft Nüsse zu bekommen; denn sofort ließ es seine kleine Rute los und streckte die zierlichen Händchen nach den Nüssen aus. Eben das hatte sie erwartet. Sie ließ sich von ihrem Sitz auf den Boden herabgleiten und rückte ein wenig näher heran. Dann warf sie wieder ein oder zwei Nüsse ihm in den Weg, und als das Kind aufsammelte, brachte sie es fertig, die Rute unbemerkt zu entwenden und unter ihrer Schürze zu verbergen. Danach kroch sie vorsichtig wieder an ihren Platz zurück.

Und das war auch nicht einen Augenblick zu früh; denn gerade krähte der Hahn, und bei dem Geschrei verschwanden sämtliche Tänzer – alle außer dem Prinzen, der schleunigst zu seinen Pferden eilte und es so eilig mit dem Aufbruch hatte, daß Kati sich alle Mühe geben mußte, hinter ihm aufzusitzen, bevor sich der Hügel auseinandertat, und schleunigst ritt er wieder in die Welt draußen hinein. Während sie im grauen Morgenlicht heimwärts ritten, knackte sie ihre Nüsse und aß sie gierig auf, denn ihr Abenteuer hatte sie erstaunlich hungrig gemacht. Als sie mit ihrem seltsamen Patienten wieder das Schloß erreicht hatte, wartete sie noch, bis er zu Bett ging und sich wieder zu wälzen und werfen begann wie vorher; dann aber stürzte sie zu ihrer Stiefschwester ins Zimmer und fand sie in tiefsten Schlafe. Ihr armer missgestalteter Kopf ruhte friedlich auf dem Kissen.

Sie versetzte ihm nun drei kleine Schläge mit der Feenrute; und seht und schaut: der Schafskopf war verschwunden, und dafür hatte die Prinzessin ihr eigenes schönes Antlitz wieder. Am Morgen kamen der König und die alte Hausmeisterin, um nachzuforschen, wie der Prinz die Nacht verbracht hätte. Kati berichtete, er hätte eine treffliche Nacht gehabt. Denn sie war ängstlich darauf bedacht, noch länger bei ihm zu bleiben. Hatte sie nun herausgefunden, daß die Elfenmädchen in dem Grünen Hügel einen Zauber über ihn verhängt hatten, so war sie auch entschlossen; herauszufinden, wie der Zauber zu brechen war.

Und das Glück war günstig: der König war erfreut darüber, daß er eine so treffliche Wärterin für den Prinzen gefunden hatte, und er war auch von den holden Blicken ihrer Stiefschwester gebannt, die so blank und hehr wie in alten Tagen aus ihrer Kammer trat und erklärte, ihr Kopfschmerz sei nun ganz gewichen, und auch sie täte jetzt gern jede Arbeit, die ihr die Hausmeisterin aufgäbe, so daß er Kati inständig bat, noch ein wenig länger bei seinem Sohn zu verweilen. Er fügte hinzu, wenn sie dazu willens sei, würde er ihr einen Beutel voll goldener Dukaten schenken. Gern war Kati bereit. Und in der Nacht wachte sie wieder beim Prinzen wie zuvor.

Und um zwölf Uhr stand er auf, kleidete sich an und ritt zu dem Feenhügel, gerade wie sie erwartet hatte, denn sie war sich nun dessen ganz gewiß, daß der Jüngling verzaubert war und nicht am Fieber litt, wie alle anderen dachten. Und seid gewiß, sie begleitete ihn wieder, ritt unbemerkt hinter ihm mit und pflückte sich Nüsse unterwegs. Als sie den Feenhügel erreichten, sprach er die gleichen Worte wie in der Nacht zuvor: „Grüner Hügel, tu dich auf, und laß uns ein, den Prinzen, Pferd und Hund!“ Und da sich der Grüne Hügel öffnete, fügte Kati leise hinzu: „Laß auch seine Frau hinter ihm ein.“ So kamen sie alle zusammen hinein.

Kati setzte sich auf einen Stein und schaute um sich. Dieselben Lustbarkeiten wie in der Vornacht huben an, und der Prinz war bald im tollsten Betriebe, er tanzte und lachte wild. Das Mädchen beobachtete ihn scharf, voller Erwartung ob sie herausbekommen könnte, wie man ihn wieder zu gesunden Sinnen brächte. Und wie sie ihn so beobachtete, kam wieder das Kindchen, das mit der Zauberrute gespielt hatte, zu ihr. Nun spielte es diesmal mit einem Vögelchen. Und wie es damit spielte, kam eine der Tänzerinnen vorüber, wandte sich zu ihrem Gefährten und sagte leichthin: „Drei Bissen von jenem Vögelchen würden dem Prinzen die Krankheit nehmen und ihn so munter machen, wie er jemals war.“ Dann kehrten sie wieder in das Getriebe der Tanzenden zurück.

Kati aber saß hochaufgerichtet auf dem Steine und bebte vor Erregung. Wenn sie nur des Vogels habhaft werden konnte, dann war der Prinz geheilt! Ganz vorsichtig schüttete sie wieder einige Nüsse aus ihrer Tasche und rollte sie über den Boden dem Kinde zu. Das hob sie eifrig auf und ließ dabei den Vogel fahren; blitzschnell hatte ihn Kati gefaßt und verbarg ihn unter ihrer Schürze. Nicht lange danach krähte der Hahn, und sie und der Prinz machten sich auf den Heimritt. Aber an diesem Morgen knackte sie keine Nüsse, sondern tötete und rupfte den Vogel, dessen Federn sie über die Straße verstreute, und sowie sie das Zimmer des Prinzen erreicht hatte und ihn wohlbehalten im Bett wußte, steckte sie den Vogel über dem Feuer auf einen Spieß und briet ihn.

Und alsbald begann er zu brutzeln und braun zu werden und köstlich zu duften, so daß der Prinz in seinem Bett in der Ecke die Augen aufschlug und schwach ihr zuraunte: „Wie sehr wünschte ich, ein Stückchen von jenem Vogel zu bekommen!“ Als Katharina diese Worte hörte, hüpfte ihr Herz vor Freuden, und sobald der Vogel gebraten war, schnitt sie ein Stückchen von seiner Brust und steckte es dem Prinzen in den Mund. Als er es gegessen hatte, schien ein wenig seiner alten Kraft zurückzukehren, denn er stützte sich auf den Ellenbogen und sah seine Pflegerin an. „Oh, hätte ich doch noch ein Stückchen von dem Vogel!“ sagte er. Und seine Stimme klang schon kräftiger.

So gab ihm Kati ein zweites Stück, und als er es gegessen hatte, saß er aufrecht in seinem Bett. „Oh, hätte ich doch nur noch ein drittes Stück von dem Vogel“ rief er. Und nun kehrte seine Gesichtsfarbe zurück, und seine Augen fingen an zu leuchten. Diesmal brachte ihm Kati alles übrige von dem Vogel. Und gierig aß er es auf und löste mit den Fingern auch den letzten Fetzen Fleisch von dem Knochen. Als er fertig war, sprang er aus dem Bette, kleidete sich an und setzte sich ans Feuer. Und als morgens der König und hinter ihm die alte Hausmeisterin kamen, um zu sehen, wie es um den Prinzen stünde, fanden sie ihn, wie zusammen mit seiner Pflegerin Nüsse knackte, denn Kati hatte in ihrer Schürzentasche noch eine ganze Menge mitgebracht.

Der König war so voll Freude über die Heilung seines Sohnes, so daß er Kati die höchsten Ehren angedeihen ließ und sofort Order gab, daß der Prinz sie heiraten sollte. „Denn“, so schloß er, „ein Mädchen, das so gut zu pflegen versteht, wird auch eine gute Königin abgeben.“ Der Prinz war ganz willens, nach dem Befehl seines Vaters zu tun. Und während sie miteinander plauderten, kam sein jüngerer Bruder herein; er führte Prinzessin Magdalenchen bei der Hand, deren Bekanntschaft er erst gestern gemacht hat, und erklärte: „Ich bin so verliebt in sie, daß ich sie sofort heiraten will! So ging daß alles bestens aus, und jedermann war voll Freuden.
Die beiden Hochzeiten fanden sogleich statt, und wenn die beiden Paare noch nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.

Märchen aus Schottland

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Der Robbenfänger und die Meerleute

An der Nordküste von Schottland lebte in einer kleinen Hütte ein Mann, der Fischfang trieb, vor allem aber Robben fing. Deren Felle wurden ihm gut bezahlt. Die Tiere kamen in großer Zahl aus dem Meere und legten sich auf die Felsen bei seinem Hause in die Sonne. So war es nicht schwer, ihnen beizukommen. Einige darunter fielen durch ihre Größe auf, und manche meinten, das seien überhaupt keine Robben, sondern Wassermänner und Meerfrauen, die auf dem Grunde der See wohnten. Aber der Robbenfänger lachte nur darüber und sagte, gerade damit mache man das beste Geschäft: je größer die Tiere, desto größer die Felle und um so höher die Preise.

Eines Tages hatte er beim Jagen ein Missgeschick. Das Tier, nach dem er stieß, entglitt ihm mit lautem Geheul ins Wasser mitsamt dem Jagdmesser, das in ihm steckte. Als er verdrießlich nach Hause ging, kam ein Fremder daher geritten, der noch ein zweites Pferd mit sich führte. Er hielt den Robbenfänger an und sagte, er sei von jemand abgeschickt, der mit ihm einen Handel über eine Anzahl Seehundsfelle schließen wolle, und ob er mit ihm zu dem Auftraggeber gehe: es müsse aber sofort sein. Der Robbenfänger freute sich. Da war ein guter Handel in Aussicht, der konnte den Verlust mehr als wett machen. Er willigte also ein, bestieg das zweite Pferd, und der Fremde ritt mit ihm so geschwind los, dass der Wind, der, wie der Fischer wusste, doch vom Rücken her kam, ihm ins Gesicht zu blasen schien. Mit einemmal hielt der Fremde an, sie standen an einem Felsenhang, der in die See hineinragte und steil abstürzte.

„Hier ist es“, sagte der Führer, packte dabei den Fischer mit übernatürlicher Kraft und stürzte sich ohne weiteres mit ihm gerade ins Meer hinein. Der Robbenfänger dachte schon, jetzt sei es aus mit ihm, da merkte er zu seinem Erstaunen, dass sich etwas mit ihm verändert hatte. Mitten im Wasser konnte er ganz leicht atmen, und dabei sanken sie immer tiefer und so schnell, wie sie vorher zu Land durch die Luft gesaust waren. Sie waren – er wusste nicht wie tief – hinab getaucht, da kamen sie auf dem Grunde an ein großes gewölbtes Tor, das schien aus rosenroten Korallen gemacht und war besetzt mit Herzmuscheln. Es öffnete sich von selbst, und sie traten in einen großen Saal, dessen Wände aus Perlmutt waren und dessen Boden aus glattem, festem Seesand bestand.

Der Saal war voll von Gästen, lauter Robben, aber sie sprachen und zeigten an ihrem gebaren, dass sie wie Menschen empfanden. Sie schienen alle sehr traurig zu sein, bewegten sich lautlos durch den Saal, sprachen leise miteinander oder lagen schwermütig auf dem Sandboden und wischten sich mit ihren weichen felligen Flossen große Tränen aus den Augen.
Der Robbenfänger wandte sich zu seinem Begleiter und wollte ihn fragen, was das alles bedeutete – da sah er zu seinem Schrecken, dass der ebenfalls die Gestalt eines Seehundes angenommen hatte. Noch mehr entsetzte er sich aber, als er nun gewahr wurde, dass auch er selber nicht mehr den Menschen ähnlich, sondern in einen Seehund verwandelt war. Ganz benommen und verzweifelt war er bei dem Gedanken, dass er nun sein Leben lang in dieser schauderhaften Gestalt bleiben müsse.

Jetzt zeigte ihm sein Führer plötzlich ein langes Messer und fragte ihn: „Hast du das schon einmal gesehen?“ Er erkannte sein eigenes, womit er am Morgen den Seehund getroffen hatte. Er erschrak so sehr, dass er auf sein Gesicht fiel und um Gnade bat. Er dachte nicht anders, als dass sie Rache an ihm nehmen und ihm ans Leben gehen wollten. Statt dessen aber umringten sie ihn und rieben ihre weichen Nasen an seinem Fell, um ihm zu zeigen, wie gut sie es mit ihm meinten, und baten ihn gar sehr, er solle nur ruhig sein; es würde ihm nichts geschehen und sie würden ihn ihr ganzes Leben lang lieben, wenn er nur täte, was sie von ihm verlangten. Sein Führer brachte ihn in einen Nebenraum. Da lag ein großer brauner Seehund auf einem Lager von blassrotem Seetang mit einer klaffenden Wunde an der Seite.

„Es war mein Vater“, sagte sein Führer, „den Du heute morgen verwundet hast. Ich habe Dich hierher gebracht, damit du ihm die Wunde verbindest. Denn keine andere Hand als die deinige kann ihn gesund machen.“
„Ich verstehe zwar nicht viel von der Heilkunst“, sagte der Robbenfänger und war erstaunt über die Nachricht dieser seltsamen Geschöpfe, denen er solches Unrecht getan hatte, „aber ich will ihn verbinden, so gut ich nur kann. Es tut mir von Herzen leid, dass meine Hand ihm die Wunde schlug.“

Er ging zu dem Bett, wusch und besorgte den Kranken, so gut er nur konnte. Kaum war er damit fertig, da schien sich die Wunde schon zu schließen und zu heilen. Nur eine Narbe blieb, und der alte Seehund sprang, so munter wie je. Da verwandelte sich die Trauer in allgemeine Lust und Freude, im ganzen Robbenpalast lachten sie, schwätzten sie, küssten sich in ihrer sonderbaren Weise, scharten sich um den Alten, rieben ihre Nasen gegen seine, als wollten sie ihm zeigen, wie glücklich sie über seine schnelle Heilung wären.

Der Robbenfänger stand die ganze Zeit in einer Ecke, bedrängt von finsteren Gedanken. Er sah wohl, sie wollten ihn nicht töten – aber sollte er nun sein ganzes übriges Leben lang als Seehund hier klaftertief unter dem Meere bleiben? Da nahte sich zu seiner großen Freude wieder sein Führer und sagte: „Nun steht es dir frei, zu Weib und Kindern heimzukehren. Ich will dich zu ihnen bringen, aber nur unter einer Bedingung.“ – „Und welche wäre das?“ fragte der Robbenfänger begierig und war ganz außer sich vor Freude bei dem Gedanken, unversehrt wieder in die Oberwelt und zu seiner Familie zurückkehren zu dürfen. „Dass du einen feierlichen Eid schwören willst, nie wieder einen Seehund zu verwunden.“

Das wollte er gern tun. Wenn er damit auch den Robbenfang, seinen bisherigen Lebensberuf, aufgeben musste, so wusste er doch, nur so würde er seine richtige Gestalt wiedergewinnen können. Schließlich konnte er sich ja dann später auf irgendeine andere Art sein Brot verdienen. So legte er den geforderten Eid mit aller Feierlichkeit ab, hielt seine Flosse hoch zum Schwur, und alle die anderen Robben stellten sich neben ihn als Zeugen. Ein Seufzer der Erleichterung ging durch die Säle, als die Worte gesprochen waren: denn er war der tüchtigste Robbenfänger im Norden gewesen.

Dann sagte er der seltsamen Gesellschaft Lebewohl. Mit seinem Führer zog er wieder durch das äußere Korallentor und hoch durch das schattenhafte grüne Wasser, bis es anfing immer lichter zu werden und sie zuletzt auftauchten im Sonnenschein der Erde. Mit einem Sprung waren sie oben auf der Klippe, wo die beiden schwarzen Rosse schon auf sie warteten und ruhig das grüne Gras abknabberten.Als sie das Wasser verließen, fiel ihre seltsame Verkleidung von ihnen ab, und sie waren gerade so wie vorher, ehe sie ins Wasser hinabgetaucht waren: ein einfacher Robbenfänger und ein hochgewachsener gutgekleideter Mann im Reitanzug. Dann geschah alles wie vorher, die Pferde sausten dahin, und es dauerte nicht lange, da stand der Robbenfänger wieder wohlbehalten vor seinem Haus.

Wie er dem Fremden die Hand hinhielt, um Lebewohl zu sagen, zog der einen großen Beutel Goldes heraus und reichte ihn hin: „Du hast deine Pflicht bei dem Handel erfüllt – wir müssen es ebenso machen“, sagte er. „Man soll nie sagen dürfen, wir hätten eines ehrlichen Mannes Arbeit beansprucht, ohne uns erkenntlich zu zeigen.“ Damit verschwand er. Als der Robbenfänger in seiner Hütte den Beutel auf dem Tisch ausleerte, war es so viel, dass er nicht bedauern brauchte, seinem Handwerk entsagt zu haben.

Quelle: (Schottisches Märchen)

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Dermot mit dem Liebesfleck

Da waren einst vier Gefährten: Dermot O’Dyna, Conan, Osgar und Goll. Sie waren stark und klug und kampferprobt, und alle vier gehörten zur Fianna, zu den Männern des großen Fin McCool.
Einmal waren die vier auf der Jagd. Sie jagten, bis es dunkel wurde, dann fing es auch noch zu regnen an. Nun mochten sie nicht die ganze Nacht trübsinnig unter triefenden Bäumen hocken, also sahen sie sich um, ob nicht in der Nähe ein Strohdach auf sie wartete.

So kamen sie in ein schmales Tal, das keiner von ihnen je betreten hatte, dort sahen sie Rauch aufsteigen aus dem Schornstein einer einsamen Hütte. Dermot stieß den Ruf der Freundschaft aus, um den Bewohnern der Hütte zu zeigen, dass sie nicht in böser Absicht kämen. Da trat ein alter Mann aus der Hütte, er begrüßte die Männer freundlich und hieß sie willkommen für die Nacht. So traten sie über die Schwelle ans hell lodernde Feuer.

Der Alte wohnte nicht allein in der Hütte. Bei ihm war ein junges Mädchen, kupferrot war ihr Haar, rund und schön waren ihre Brüste, und auf ihren Lippen lag ein Lächeln, zärtlich und lockend, das ließ die Männer die Augenbrauen heben. Und ein mächtiger Hammel lag ruhig und schwer in einer Ecke und glotzte die Gäste aus großen dummen Augen an. Und eine schwarze Katze lag zufrieden schnurrend an der Feuerstelle.

Das Mädchen hängte nun einen großen Kessel übers Feuer, stellte vier hölzerne Schalen auf den weißgescheuerten Tisch in der Mitte des Raumes und legte vier Löffel dazu. Die Männer setzten sich um den Tisch, das Mädchen brachte den Topf mit der würzigen dampfenden Bohnensuppe. «Greift zu», sagte sie, dann ging sie mit dem Alten in den Nebenraum, um dort das Nachtlager zu richten. Doch gerade wie die Männer Suppe schöpfen wollten, sprang der Hammel mit einem Satz mitten auf den Tisch, aber so geschickt, dass er weder Topf noch Teller umstieß, und sein scharfer Geruch war stärker als der Duft der Suppe.

Ärgerlich wollten die Gefährten den Hammel vom Tisch herunterstoßen, doch der wehrte sich, stieß um sich und schlug so kräftig aus, dass die Männer taumelten und zu Boden fielen. Endlich glückte es Goll, das Tier vom Tisch zu werfen, aber das sollte den Gefährten schlecht bekommen. Denn bis jetzt hatte der Hammel nur mit ihnen gespielt. Nun aber wurde er böse und teilte so harte Stöße aus, dass die vier stolzen Fianna-Helden im Handumdrehen auf dem Rücken lagen.

Und dann stellte der Hammel dem Goll auch noch die Vorderbeine auf die Brust. Da kam der Alte aus dem Nebenraum. «O weh,» sagte er, «wie ich sehe, ist es euch schlecht ergangen. Katze, warum hast du das zugelassen? Komm, binde den dummen Hammel fest, dass er kein Unheil mehr anrichten kann.» Da sprang die Katze, die wie schlafend am Kamin gelegen hatte, mit einem Satz dem Hammel ins Genick, krallte sich fest in sein Ohr und lenkte ihn in seinen Winkel zurück, dort band sie einen Strick um seine Hörner, so dass er sich nicht mehr rühren konnte.

Die Männer erhoben sich stöhnend, ächzend und fluchend. «Wir können nicht länger bei Euch bleiben,» sagte Dermot. «Noch nie sind wir so erniedrigt worden – und das vor den Augen eines schönen Mädchens. Habt Dank für eure Gastfreundschaft. Doch Euer Haus muss verhext sein. Und wir sind wohl nicht Manns genug, diesen Zauber zu brechen. Lieber schlafen wir draußen in Nacht und Nässe, als dass wir uns noch einmal so demütigen lassen!»

Der Alte hob die Hand und lachte leise: «Ihr braucht euch nicht zu schämen, Männer. Kein gewöhnlicher Hammel hat euch zu Boden geworfen, und auch die Katze, die ihn zähmte, was euch nicht gelang, ist kein gewöhnliches Tier. Bleibt also, das wird eurem Ruf nicht schaden.» «Ja, bleibt», sagte auch das Mädchen, und sie blickte Dermot mit ihren Sternenaugen an. Dermot senkte den Kopf. Der Macht dieser Augen war so schwer zu widerstehen wie dem Hammel.

Doch Goll blieb zornig: «Nein, nein, mit ein paar guten Worten und einem schönen Blick ist unsere Schande nicht getilgt. Wir müssen wissen, wer das ist, vor dem unsere Kraft so erbärmlich versagt hat!» «Nun, lieber hätte ich es euch verschwiegen », sagte der Alte, «aber wenn ihr so schwer gekränkt seid. Nur hoffe ich, dass euch die Wahrheit nicht noch mehr erschreckt.

Der Hammel, dem selbst vier Fianna-Helden nicht widerstehen können – das ist die Welt. Ihr unterlegen zu sein, dafür muss sich niemand schämen. Die Katze freilich ist noch stärker als die ganze Welt; die Katze nämlich ist – der Tod.» «Der Tod!?» rief Dermot, «schnell, Männer, lasst uns gehn!» «Fürchtet euch nicht», sagte der Alte, «nirgends seid ihr sicherer vor dem Tod als in meinem Haus. Solange ihr unter diesem Dach seid, schläft der Tod. Also kommt, es ist spät, ich zeige euch euer Lager.

Es gibt nur drei Räume unter diesem Dach. Dort hinten stehen die Schafe. Hier, am großen Feuer, schlafe ich, der Herr des Hauses. Wir haben euch im dritten Raum ein Strohlager bereitet, da, wo auch das Bett meiner Tochter steht. Vier stolzen Fianna-Helden kann ich gewiss die Ehre eines jungen Mädchens anvertrauen. Kommt jetzt, ihr werdet müde sein.»

Da legten sich die vier Gefährten ins Stroh, doch keiner von ihnen schlief ein. Was wären das auch für Männer gewesen, wenn sie die Nähe eines schönen Mädchens nicht wachgehalten hätte. Als dann das Mädchen ins nachtschwarze Zimmer trat und ihre Kleider ablegte, da ging ein weiches Licht von ihr aus. Die Männer hielten sich ganz still, jeder hoffte, dass die andern bald einschlafen würden.

Goll war der erste, der dem Verlangen nicht mehr widerstehen konnte. Leise schlich er zum Bett des Mädchens und flüsterte in ihr Ohr: «Lass mich zu dir, schöner Glanz. Ich will, dass du mein wirst. Ohne deine Liebe finde ich keinen Schlaf.» Das Mädchen sah ihn an mit ihren weichen lockenden Augen: «Einmal habe ich dir gehört, Goll, doch nie nie wieder wird es geschehn. Leg dich wieder hin.» Zähneknirrschend tappte Goll zurück und grub sich ins Stroh.

Eine Weile war es still, dann versuchte Osgar sein Glück. Doch kaum war er an das Bett des Mädchens gekommen, da hörte er ihre Stimme: «Auch dich kann ich nicht lieben, Osgar. Einmal bin ich deine Liebste gewesen. Aber das ist vorbei und kommt nie wieder.» Nicht lange, dann schlich auch Conan an ihr Bett: «Schönste Feenprinzessin,» flüsterte er, «niemand belauscht uns. Und du bist schön wie eine Wolke, die die Morgensonne rötet. Sei mein, und ich werde dein Lob bis an mein Lebensende singen!»

Aber sie wies auch ihn ab: «Conan, dein Lob brauch‘ ich nicht. Ich bin wie ich bin, ob du mich lobst oder nicht. Doch nachdem ich dir einmal gehört habe, mag ich dich nicht mehr.» Verwirrt kroch Conan zurück zu seinem sein Lager. Was sonst sollte er auch tun? Liebe lässt sich nicht erzwingen. Dermot war auch noch wach und hatte alles gehört. Wenn sie die andern abgewiesen hat, dachte er, so kann ich mir vielleicht Hoffnung machen.

Er schlich zu ihrem Bett, und was er dort sah, verschlug ihm den Atem: das Mädchen hatte sich aufgerichtet, um ihren Leib war nichts als kupferrotes Haar, im Dunkeln leuchtete ihre helle Haut, und sie streckte ihre Arme nach ihm aus: «Dermot, mein Liebster, mein Schönster. Wie sehr hab‘ ich auf dich gewartet, wie gern schliefe ich mit dir. Doch auch dir kann ich nicht gehören, niemals kehre ich zu dem zurück, der mich einmal besessen hat. Denn ich bin die Jugend. Aber dich liebe ich, Dermot, und es fällt mir schwer, dich wegzuschicken. Du sollst nicht gehen ohne ein Zeichen meiner Liebe. Komm, neig‘ dich herab zu mir.»

Dermot gehorchte, da strich das Mädchen ihm zärtlich über die Stirn: «Nun habe ich dich gezeichnet, Liebster. Nun wird dich kein Mädchen, keine Frau mehr ansehen können ohne dich zu lieben. Und jetzt geh, Dermot, und lass mich allein.» Sie beugte sich zurück, ihr Licht erlosch und Dermot tastete sich durch das Dunkel zurück zu seinem Lager.

Doch er fand keinen Schlaf mehr in dieser Nacht. Fortan aber konnte kein Mädchen, keine Frau dem Dermot widerstehen. Wenn er die Mädchen nur ansah, so fielen sie ihm zu so wie das Gras vor der Sichel fällt. Und darum hieß Dermot O’Dyna seit jener Nacht «der mit dem Liebesfleck».

Quelle: (Frederik Hetmann: Irischer Zaubergarten. Märchen, Sagen und Geschichten von der grünen Insel)

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Binnorie

Es war einmal…, da lebten in einem Schloß nahe der prächtigen Mühlendämme von Binnorie zwei Königstöchter. Die ältere Schwester wurde schon längere Zeit von Ritter William umworben. Er gewann ihre Liebe und schwörte ihr ewige Treue, aber, wie das so ist, bald interessierte er sich auch für die Jüngere der Schwestern, die hatte goldenes Haar und Wangen, so rot wie Kirschen. Und schon besuchte er nur noch die jüngere Prinzessin, die ältere hatte er bald vergessen. Das machte die ältere sehr zornig und der Hass und die Eifersucht auf ihre Schwester wuchs und wuchs und sie schmiedete einen Plan, wie sie die Jüngere loswerden konnte.

Eines schönen Morgens, es war klar und sonnig, sprach die Ältere: „Komm Schwester, wir wollen spazieren gehen und nachschauen, ob unseres Vaters Schiffe schon den Mühlenkanal bei Bionnorie heraufkommen. Und Hand in Hand gingen sie zum Fluss. Am Ufer angekommen, stellte sich die Jüngere auf einen Stein am Ufer, um nach der Landung der königlichen Schiffe ausschauzuhalten, da packte sie die Ältere von hinten und warf sie in das reissende Wasser.

„Oh, liebe Schwester, reich mir deine Hand“, rief die Jüngere in Todesangst, als sie davontrieb, „ und du sollst von allem, was ich besitze und besitzen werde die Hälfte abbekommen!“ „Oh nein, Schande über mich, wenn ich Dir meine Hand reichen und dich retten würde, wo Du mir meinen Liebsten genommen hast. Und deinen Besitz erbe ich ohnehin.
„Oh Schwester, liebe Schwester“, wenn Du mir nicht die Hand reichen willst, dann doch wenigstens deinen Handschuh“, rief sie, während sie stromabwärts trieb, „und du sollst auch deinen Liebsten, William, wiederhaben!“
„Nein, weder Hand noch Handschuh werde ich Dir reichen und wenn du erst ertrunken und gestorben bist, wird der schöne William ohnehin ganz mir gehören!“. Sprachs, drehte sich um und ging zurück zum Schloss.

Manchmal schwimmend, manchmal sinkend trieb nun der Körper der toten Prinzessin den Fluss entlang bis er vom Sog eines Mühlstromes ergriffen wurde. Es war um die Mittagszeit, als die Tochter des Müllers am Fluss Wasser zum Kochen holen wollte. Da sah sie etwas Weisses im Wasser zwischen den Mühldämmen treiben. Sogleich rief sie: „Vater, Vater, schliess die Schleusentore, da schwimmt etwas weisses, wie ein Schwan oder ein Mädchen. Der Müller eilte sofort zum Mühldamm und stoppte das Mühlrad. Dann zogen sie den Körper der toten Prinzessin mit vereinten Kräften aus dem Wasser. Und schön war sie noch im Tode, wie sie da lag, lilienweiss mit ihrem langen goldenen Haar, den Perlen und Edelsteinen, dem goldenen Gürtel und dem langen weissen Kleid.

Und wie sie da lag in all ihrer Schönheit, kam ein berühmter Harfner des Weges. Er schaute in das blasse Gesicht der Prinzessin und konnte es seit dem nicht mehr vergessen, obwohl er weit reiste und vieles zu sehen bekam. Nach einiger Zeit kehrte er zurück an den Mühldamm von Binnorie, an die Stelle, wo man die tote Prinzessin begraben hatte. Aber alles, was von der Prinzessin noch übrig war waren Knochen und ihr goldenes Haar. Sodann baute er sich aus ihrem Brustbein eine Harfe und aus dem Haar der Prinzessin spann der Harfner die Saiten. Dann zog er weiter, den Hügel bergan zum Schloss des Königs.

An diesem Abend war der ganze Hofstaat zusammengekommen: König, Königin, die Tochter und Sir William, der Schwiegersohn. Alle wollten sie der Kunst des berühmten Harfners lauschen. Zuerst sang und spielte er auf seiner alten Harfe, dabei hatte er das Talent, mit seiner Musik ganz nach seinem Belieben alle fröh und glücklich, oder aber auch traurig stimmen zu können. Später am Abend wollte der Harfner auch auf der neuen Harfe spielen, die er am Nachmittage gebaut hatte, doch wie er sie auspackte, begann sie, völlig von selbst mit klarem dunklen Ton zu singen:

„Dort drüben sitzt mein Vater, der König,
Binnorie, oh Binnorie;
Und dort sitz meine Mutter, die Königin;
bei den Mühldämmen von Binnorie;“

„Und dort steht mein Bruder Hugh,
Binnorie, oh Binnorie
Bei ihm William, mein Liebster“, mal ehrlich, mal verlogen;
bei den Mühldämmen von Binnorie;“

Alle waren erschrocken und der Harfner musste die ganze Geschichte erzählen, wie er die ertrunkene Prinzessin am Ufer des Mühldammes von Binnorie liegen sah, wie er aus ihren Gebeinen die Harfe baute und aus dem Haar ihre Saiten fertigte. Und gerade als er mit der Geschichte endete sang die Harfe laut und klar:

„Und dort sitzt meine Schwester, die mich ertränkte,
bei den Mühldämmen von Binnorie.“

Doch kaum war der letzte Ton verklungen, da krachte es und die Harfe zerbrach in Stücke und gab nie wieder einen Ton von sich.

(Joseph Jacobs – England)

FÜR GROSS UND KLEIN …, MÄRCHEN AUS GROSSBRITANIEN, SCHOTTLAND, IRLAND …, Der junge König

Es war der Abend vor dem anberaumte Tag seiner Krönung, und der junge König saß allein in seinem schönen Gemach. All seine Höflinge hatten sich, nach dem zeremoniellen Brauch der Zeit die Köpfe bis zum Boden neigend, empfohlen und in den großen Saal des Palastes zurückgezogen, um von dem Oberhofzeremonienmeister ein paar letzte Vorschriften entgegenzunehmen, da es einige unter ihnen gab, die noch ganz natürliche Manieren hatten, und das ist, ich brauche es kaum zu erwähnen, bei einem Höfling ein sehr schweres Vergehen.

Der Knabe – denn er war noch ein Knabe mit seinen nur sechzehn Jahren – war nicht traurig über ihren Abgang und hatte sich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung auf die weichen Kissen seines bestickten Ruhelagers zurückgeworfen, wo er nun scheuen Blicks und offenen Mundes lag wie ein brauner Waldfaun oder ein junges, soeben von den Jägern gefangenes Tier des Waldes.
Und tatsächlich waren es die Jäger, die ihn gefunden hatten, die fast durch Zufall auf ihn gestoßen waren, als er, barbeinig und die Hirtenpfeife in der Hand, der Herde des armen Ziegenhirten folgte, der ihn aufgezogen und für dessen Sohn er sich stets gehalten hatte. Das Kind der einzigen Tochter des alten Königs aus heimlicher Ehe mit einem, der an Rang tief unter ihr stand – einem Fremden, sagten manche, der die junge Prinzessin durch den wunderbaren Zauber seines Flötenspiels dahin gebracht hatte, ihn zu lieben, während andere von einem Künstler aus Rimini sprachen, dem die Prinzessin viel, möglicherweise allzu viel Ehre erwiesen hatte und der plötzlich, ohne seine Arbeit in der Kathedrale vollendet zu haben, aus der Stadt verschwunden war -, hatte man ihn, erst eine Woche alt, heimlich von der Seite seiner schlafenden Mutter geraubt und einem gemeinen Bauern und seiner Frau in Obhut gegeben, die keine eigenen Kinder besaßen und in einem entlegenen Teil des Waldes, mehr als einen Tagesritt von der Stadt entfernt, lebten.

Kummer oder die Pest, wie der Hofarzt erklärte, oder, wie manche flüsterten, ein schnell wirkendes italienisches Gift, in einem Becher Würzwein gereicht, tötete eine Stunde nach dem Erwachen das bleiche Mädchen, das ihn gebar, und als sich der verlässliche Bote, der das Kind über dem Sattelbogen trug, von seinem müden Pferd niederbeugte und bei der Hütte des Ziegenhirten an die rohe Tür klopfte, wurde der Leichnam der Prinzessin in ein offenes Grab gesenkt, das man auf einem verlassenen Friedhof jenseits der Stadttore geschaufelt hatte, ein Grab, in dem, wie es hieß, noch ein Leichnam lag, der eines jungen Mannes von wundersamer und fremdländischer Schönheit, dessen Hände mit einem geflochtenen Strick auf dem Rücken gebunden waren und dessen Brust durchbohrt war von vielen roten Wunden.

So lautete zumindest die Geschichte, die sich die Leute zurannten. Gewiss war, dass der alte König, ob von Reue bewegt über seine große Sünde oder nur, weil er seinem Geschlecht das Königreich zu erhalten wünschte, auf seinem Totenbett nach dem Knaben geschickt und ihn im Beisein des Kronrats als seinen Erben anerkannt hatte.
Und es scheint, als habe er vom ersten Augenblick seiner Anerkennung an Zeichen jener sonderbaren Leidenschaft für Schönheit offenbart, die bestimmt war, einen so großen Einfluss auf sein Leben auszuüben. Die ihn zu der Zimmerflucht geleiteten, die seinem persönlichen Gebrauch vorbehalten war, sprachen oft von dem Freudenschrei, der von seinen Lippen brach, als er die erlesenen Gewänder und die kostbaren Juwelen erblickte, die für ihn bereitlegen, und von dem fast wilden Entzücken, mit dem er sein derbes, ledernes Unterkleid und seinen plumpen Schaffellmantel beiseite warf mitunter freilich vermisste er die schöne Freiheit seines Lebens im Walde, und stets war er geneigt, sich über die langweiligen Hofzeremonien zu ereifern, die soviel von jedem Tag in Anspruch nahmen; aber der wundervolle Palast – >JoyeusePest Du sollst für soundso viel kaufen? Du sollst zu diesem Preis verkaufen?< Doch wohl nicht. Deshalb geh zurück in deinen Palast und lege deinen Purpur und dein feines Leinen an. Was hast du mit uns und mit dem, was wir leiden, zu schaffen?«
»Sind nicht der Reiche und der Arme Brüder?« fragte der junge König.
»Ja«, antwortete der Mann, »und der Name des reichen Bruders ist Kain.«
Und die Augen des jungen Königs füllten sich mit Tränen, und er ritt weiter durch das Murren des Volkes, und der kleine Page bekam Angst und verließ ihn.
Und als er bei dem großen Portal der Kathedrale anlangte, streckten die Soldaten ihre Hellebarden vor und sagten: »Was suchst du hier? Niemand tritt durch diese Tür als der König.« Und sein Gesicht flammte vor Zorn, und er sprach zu ihnen: »Ich bin der König«, und schob ihre Hellebarden beiseite und ging hinein.
Und als ihn der alte Bischof in seinem Hirtenkleid kommen sah, erhob er sich verwundert von seinem Sitz und ging ihm entgegen und sprach zu ihm: »Mein Sohn, ist dies eines Königs Kleidung? Und mit Welcher Krone soll ich dich krönen, und welches Zepter soll ich in deine Hand legen? Wahrlich, dies sollte ein Tag der Freude für dich sein und nicht ein Tag der Erniedrigung.«
»Soll die Freude tragen, was der Kummer schuf?« entgegnete der junge König. Und er erzählte ihm seine drei Träume.
Und als der Bischof sie vernommen hatte, runzelte er die Stirn und sagte: »Mein Sohn, ich bin ein alter Mann und stehe im Winter meiner Tage, und ich weiß, dass viel üble Dinge in der weiten Welt getan werden. Die wilden Räuber kommen von den Bergen herab und entführen die kleinen Kinder und verkaufen sie an die Mauren. Die Löwen lauern den Karawanen auf und springen auf die Kamele. Das Wildschwein zerwühlt das Korn im Tal, und die Füchse zernagen die Weinstöcke auf dem Hügel. Die Seeräuber verheeren die Küste und verbrennen die Boote der Fischer und nehmen ihnen ihre Netze. In den Salzsümpfen leben die Aussätzigen; ihre Häuser sind aus geflochtenem Schilfrohr, und niemand darf ihnen nahen. Die Bettler wandern durch die Städte und essen ihre Speise mit den Hunden. Kannst du bewirken, dass diese Dinge nicht geschehen? Willst du den Aussätzigen zu deinem Bettgenoss machen und den Bettler an deinen Tisch setzen? Soll der Löwe tun nach deinem Geheiß und das Wildschwein dir gehorchen? Ist nicht Er, der das Elend schuf, weiser als du? Deshalb lobe ich dich nicht für das, was du getan hast, sondern fordere dich auf, in den Palast zurückzukehren und dein Gesicht zu erheitern und die Kleidung anzulegen, die einem König geziemt, und mit der Krone aus Gold werde ich dich krönen, und das Zepter aus Perlen werde ich in deine Hand legen. Und was deine Träume betrifft, so denke nicht mehr an sie. Die Bürde dieser Welt ist zu groß, als dass ein Mensch sie trage, und das Leid der Welt zu schwer, als dass ein Herz es erdulde.«
»Sprichst du so in diesem Hause?« sagte der junge König, und er schritt an dem Bischof vorbei und stieg die Altarstufen hinauf und stand vor dem Bilde Christi.
Er stand vor dem Bilde Christi, und zu seiner Rechten und zu seiner Linken standen die wundervollen Gefäße aus Gold, der Abendsmahlskelch mit dem gelben Wein und die Phiole mit dem heiligen Öl. Er kniete vor dem Bilde Christi nieder, und hell brannten die großen Kerzen neben dem juwelenbesetzten Schrein, und der Qualm des Weihrauchs kräuselte in dünnen, blauen Girlanden durch die Kuppel. Er beugte sein Haupt im Gebet, und die Priester in ihren steifen Chormänteln schlichen vom Altar fort.
Und plötzlich kam von der Straße draußen ein wilder Tumult, und herein traten die Edlen mit gezückten Degen und nickenden Federbüschen und Schilden aus blankem Stahl. »Wo ist dieser Träumeträumer?« riefen sie. »Wo ist dieser König, der wie ein Bettler gekleidet ist – dieser Knabe, der Schande über unsern Staat bringt? Wahrlich, wir wollen ihn töten, denn er ist nicht wert, über uns zu herrschend. «
Und abermals beugte der junge König sein Haupt und betete, und als er sein Gebet beendet hatte, stand er auf und wandte sich um und blickte sie traurig an. Und siehe! Durch die gemalten Fenster kam das Sonnenlicht auf ihn herabgeströmt, und die Sonnenstrahlen woben ein Gewand aus zartem Gewebe um ihn, das schöner war als das zu seiner Freude geschaffene Gewand. Der verdorrte Stab blühte und trug Lilien, die weißer waren als Perlen. Der dürre Dorn blühte und trug Rosen, die röter waren als Rubine. Weißer als reine Perlen waren die Lilien, und ihre Stiele waren von blankem Silber. Röter als edle Rubine waren die Rosen, und ihre Blätter waren von gehämmertem Gold.
Er stand da in der Kleidung eines Königs, und die Türen des juwelenbesetzten Schreins flogen auf, und von dem Kristall der vielstrahligen Monstranz ging ein wunderbares, geheimnisvolles Licht aus. Er stand da in eines Königs Kleidung, und die Glorie Gottes erfüllte den Raum, und die Heiligen in ihren geschnitzten Nischen schienen sich zu bewegen. In der makellos schönen Kleidung eines Königs stand er vor ihnen, und die Orgel ließ ihre Musik erbrausen, und die Trompeter bliesen auf ihren Trompeten, und die Sängerknaben sangen.
Und das Volk fiel in Ehrfurcht auf die Knie, und die Edlen stießen den Degen in die Scheide und huldigten ihm, und des Bischofs Gesicht wurde bleich, und seine Hände zitterten. »Ein größerer als ich hat dich gekrönt, rief er aus, und er kniete vor ihm nieder. «
Und der junge König kam vom Hochaltar herab und ging mitten durch das Volk heim. Aber niemand wagte zu seinem Gesicht aufzublicken, denn es glich dem Antlitz eines Engels.

Quelle: (Oscar Wilde)